Der neue Jugendterror
Exkurs Moral und Gewissheit
Die Relativität (fast) aller Moral
Kennzeichen aller Formen von Tugendterror ist es, dass bestimmte gesellschaftliche Normen, Sichtweisen oder Ziele in den Stand absoluter Wahrheiten gesetzt und gleichzeitig moralisch aufgeladen werden. Damit wird die Frage, ob man sich in dieses Schema begibt und daraus agiert, nicht zu einer Frage von Erkenntnis, Gewohnheit und Belieben, sondern zu einer Sache von Gut und Böse. Dabei setzt jede Art von Tugendterror die eigenen Maßstäbe absolut und macht zur axiomatischen Regel, dass jeder ein Feind ist, der diese Maßstäbe nicht akzeptiert. Das hat etwas Kindliches.
Als Kind war ich in dem Glauben erzogen worden und hatte geradezu axiomatisch vorausgesetzt, dass es objektiv unverrückbare Maßstäbe für Gut und Böse gebe und dass jene, die Böses tun, folglich auch böse Menschen seien, mindestens aber – hier kam die Idee christlicher Gnade zur Geltung – irrende Menschen.
Ich glaubte, es gebe auch in moralischen Fragen so etwas Ähnliches wie ein absolutes Gehör. Natürlich lag ich völlig falsch. Nahezu jedes große Drama, ob in der Dichtung, auf der Bühne oder in Wirklichkeit, handelt ja davon, wie sich Menschen, die das Gute wollen, in Schuld verstricken und das Böse bewirken. Das macht gerade den tragischen Kern des Dramas aus.
Mit der Zeit lernte ich, wie die meisten Menschen, zu akzeptieren, dass es halt böse Menschen gibt, die die gute Ordnung stören. Im Märchen waren das die Hexen, bösen Männer und Stiefmütter. In einem ordentlichen Kriminalroman war das der unbekannte Mörder. Die große Befriedigung, die eine ordentlich aufgelöste Kriminalgeschichte beim Leser oder Zuschauer hinterlässt, besteht ja gerade darin, dass nach 300 Seiten oder anderthalb Stunden Unordnung am Ende die gute Ordnung wiederhergestellt und das Böse vernichtet oder zumindest wirksam eingedämmt worden ist.
In der menschlichen Geschichte – auch das lernte ich früh – musste es aber ziemlich viele böse Menschen geben, sonst wäre sie ja nicht eine einzige Abfolge von Brandschatzung, Raub und Kriegen gewesen. Noch schwerer fiel es mir zu akzeptieren, dass dieselbe Handlung mal gut und mal böse war, je nachdem, in welchem Kontext sie erfolgte und welcher größeren Zielsetzung sie diente: Bomben auf London und Pearl Harbour waren schlecht, denn sie dienten der Verbreitung aggressiver Gewaltherrschaft. Bomben auf Tokio oder Dresden waren dagegen gut, sie dienten ja der Bekämpfung von Gewaltherrschaft – obwohl bei beiden Alternativen größtenteils unbeteiligte und unschuldige Menschen getroffen wurden.
Noch später lernte ich, dass das Böse in wirklich großem Stil nur vollbracht werden konnte, wenn den wenigen unverbesserlichen Bösewichten, die die Staatsmacht an sich gerissen hatten, ganz viele nicht-böse, vielleicht sogar ausgesprochen gute Menschen gehorsam dienten. So konnte das Böse durch Anweisung vervielfacht werden, und seine beauftragten Agenten konnten sich gleichzeitig im Gefühl treuer Pflichterfüllung sonnen.
Ich verstand ja noch zur Not, dass ein Soldat, der den Fahneneid geschworen hatte und als Deserteur erschossen worden wäre, tapfer kämpfte – auch weil er an seine Lieben daheim dachte. Aber was dachten sich Polizisten und Familienväter, die an Massenerschießungen teilnahmen? Was dachten sich ukrainische Hilfswillige, die eine Gaskammer bedienten? Was dachten sich sieben Millionen NSDAP -Mitglieder in Deutschland? Was dachten sich die Millionen Menschen, die den Sowjetterror der dreißiger Jahre aufrechterhielten? Waren das alles böse Menschen und Zyniker? Waren die Russen und Deutschen besonders verdorbene Völker, oder hätte das überall passieren können? Nur allmählich begriff ich, dass das von mir axiomatisch vorausgesetzte absolute Gehör für Gut und Böse nicht existiert.
Im Dialog mit Mephisto heißt Gott die Versuchung des Menschen durch den Teufel gut:
Solang’ er auf der Erde lebt,
So lange sei dir’s nicht verboten.
Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.
Aber er glaubt an die menschliche Urteilskraft, die das Böse besiegen kann:
Nun gut, es sei dir überlassen!
Zieh diesen Gast von seinem Urquell ab,
Und führ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab,
Und steh beschämt, wenn du bekennen musst:
Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewusst. 365
Das muss man immer wieder hoffen. Rein empirisch scheint allerdings für die meisten
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