DS004 - Das Wrack im Eis
1.
Etwas Schreckliches lag in der Luft. Das ging schon aus der verstohlenen Art hervor, mit welcher der kleine engbrüstige Mann im Schatten lauerte und bei jedem Laut ängstlich zusammenzuckte.
Als ein Polizist auf seinem Streifengang vorüberschlenderte, bückte sich der hagere Mann hinter einen geparkten Wagen und verharrte dort, bis der Uniformierte verschwunden war.
In der Nähe reckte sich der massige Bau der New Yorker Konzerthalle in den nächtlichen Himmel. Von dem in einer Nebenstraße gelegenen Bühnenaufgang lösten sich herrlich reine Violinklänge. Sie kamen von einer kostbaren Stradivari-Geige, die ihren Spieler nicht weniger als sechzigtausend Dollar gekostet hatte.
Der Geiger war blind. Sein Name war Victor Vail, und er galt unter Musikkennern als der größte Geiger der Gegenwart. Im allgemeinen erhielt er für ein öffentliches Auftreten, das nicht länger als eine Stunde dauerte, Tausende von Dollars, aber heute spielte er zugunsten einer wohltätigen Veranstaltung.
Der im Dunkeln lauernde engbrüstige Mann wußte nichts von Victor Vail, er spürte nur, daß dessen Musik ihn seltsam berührte.
Schließlich rief er sich selbst zur Ordnung: »Du wirst weich, Mann! Bleib mit den Beinen auf dem Boden. Du hast einen Auftrag auszuführen!«
Kurz darauf kurvte ein Taxi in die Nebenstraße ein. Es unterschied sich in nichts von anderen New Yorker Taxis. Aber der Fahrer hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und sich die Mütze so weit ins Gesicht gezogen, daß von seinen Zügen kaum noch etwas zu erkennen war.
Das Taxi hielt, und der kleine Mann eilte darauf zu.
»Alles bereit?« fragte er.
»Alles in Ordnung«, erwiderte der Taxifahrer mit heiserer Stimme. Sie klang, als säße ihm ein Frosch in der Kehle. »Kümmere du dich um deinen Job.«
Der kleine Mann wand sich unbehaglich. »Soll der da drin etwa umgelegt werden?« murmelte er ängstlich.
»Frag nicht soviel«, wies ihn der Taxifahrer barsch zurecht. »Das ist eine Sache, die dich nichts angeht. Im übrigen arbeitest du ja nicht zum erstenmal für uns.«
Der kleine Mann entfernte sich gebeugt und betrat die Konzerthalle durch den Bühneneingang.
Victor Vail hatte sein Geigenspiel beendet, rauschender Beifall dröhnte durch den großen Saal.
Der hagere Mann wartete hinter der Bühne, bis sich der blinde Geiger, von bewundernden Musikkennern umgeben, seiner Garderobe näherte.
»Victor Vail!« rief der kleine Mann laut. »Ich habe eine Nachricht von Ben O’Gard für Sie!«
Der hochgewachsene weißhaarige Geiger blieb überrascht stehen und wandte den Kopf in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Freude zeigte sich auf seinen Zügen.
»Und was läßt Ben O’Gard mir ausrichten?« fragte er gespannt.
Der kleine Mann musterte die Menschen, zwischen die er sich gedrängt hatte.
»Es handelt sich um eine sehr private Angelegenheit«, verkündete er.
»Dann werden wir unter vier Augen miteinander sprechen.« Victor Vail gab seinen Bewunderern ein Zeichen zurückzubleiben und betrat seine Garderobe. Als der kleine Mann eingetreten war, schloß Vail die Tür. Seine Gedanken schienen in die Vergangenheit zurückzukehren.
»Ben O’Gard«, murmelte er sinnend. »Seit fünfzehn Jahren habe ich den Namen nicht mehr gehört. Oft habe ich versucht, ihn zu finden, denn ich schulde ihm mein Leben. Nun, da mir weltlicher Erfolg beschieden ist, möchte ich ihm meine Dankbarkeit beweisen. Sagen Sie mir, wo ist Ben O’Gard?«
»Draußen auf der Straße«, erwiderte der hagere Mann leicht bebend. »Er möchte mit Ihnen sprechen.«
Victor Vail riß die Tür des Raumes auf. »Bringen Sie mich zu meinem Freund! Schnell!«
Der kleine Mann führte den blinden Meistergeiger zum Bühnenausgang. Kurz bevor er die Tür erreichte, war ihm, als hätte ihn jemand mit einem Eimer eiskalten Wassers überschüttet.
Er sah den Mann aus Bronze!
Der Bronzemann war eine bemerkenswerte Gestalt. Die meisten Menschen um Haupteslänge überragend und mit starken Muskelpaketen bepackt, wirkte er doch nicht plump und schwerfällig. Er war ebenmäßig gebaut und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer wilden Dschungelkatze. Das Haar war ein wenig dunkler als der Bronzeton seines Gesichts. Es lag seinem Kopf glatt an. Am überraschendsten aber waren die Augen. Sie glitzerten wie tiefe Teiche aus Blattgold, wenn das Licht hinter der Bühne auf sie fiel. Hypnotische Kraft schien von ihnen auszugehen.
Der hagere Mann schauderte und atmete erleichtert auf,
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