DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
gehen.«
»Ich bezweifle, dass er sich noch immer dort herumtreibt. Inzwischen ist er wahrscheinlich schon längst verschwunden.«
»Aber wenn er da ist und auf uns wartet?«
»Es gibt ein Element der Gefahr, wie ich zugebe«, antwortete sie. »Aber herumzustehen und das Problem anzugaffen« – sie gestikulierte in Richtung der gigantischen Eibe vor ihnen – »wird uns nicht weiterhelfen. Jedenfalls ist es nicht so, als ob dieser Baum irgendwo hingehen würde.«
Bruder Lazarus kam wieder in Sicht; er hatte den Kreis abgeschritten, den die Nadeln bildeten, die von den sich ausbreitenden Zweigen der Eibe heruntergefallen waren. Er verkündete etwas auf Deutsch und benutzte dabei eine wunderliche, von italienischen Flexionen geprägte und nur ihm eigene Version dieser Sprache. Kit verstand nichts von dem, was der Mönch sagte, doch er verspürte einen aufgeregten Unterton im Klang seiner Stimme. Nachdem Bruder Lazarus seine Botschaft mitgeteilt hatte, marschierte er von ihnen weg, um abermals den Baum zu umrunden.
»Und nun?«, fragte Kit, während er beobachtete, wie der Geistliche seine Schritte zählte.
»Er sagt, dass du recht hattest: Der Größe des Baums und dem Durchmesser des Stammes nach zu urteilen, ist mindestens ein Jahrtausend vergangen, seitdem du zuletzt hier warst – plus oder minus ein, zwei oder drei Jahrhunderte. Deine Steinzeit-Kameraden sind leider längst Geschichte.« Sie gab Kit einen mitfühlenden Klaps auf die Schulter. »Tut mir leid.« Dann wandte sie sich wieder dem rasch dunkler werdenden Himmel zu und sagte: »Es bringt wirklich nichts, jetzt hierzubleiben. Lass uns nach Prag zurückkehren. Dort kaufe ich uns allen ein nettes Abendessen: Schnitzel und Bier – das Beste, das du jemals bekommen hast. Was sagst du dazu? Wir können heute Nacht zwischen sauberen Laken schlafen, und morgen stecken wir unsere Köpfe zusammen und finden heraus, was unsere nächsten Schritte sein werden.«
»Geht klar.« Kit schaute sich ein letztes Mal auf der Lichtung um und stimmte dann ein wenig widerwillig zu. Er bückte sich und überprüfte behutsam die Hitze des Gehäuses seiner Ley-Lampe. Es hatte sich so weit abgekühlt, dass man es berühren konnte, ohne sich zu verbrennen. Also hob er die Ley-Lampe auf und barg anschließend die von Mina. »Am besten lassen wir diese Geräte nicht hier herumliegen. Man weiß ja nie, wer über sie stolpern könnte.«
Kit nahm seinen Rucksack ab, stopfte die defekten Vorrichtungen hinein und bettete sie unten neben seinem Pelzkittel, den er aus dem Höhleneingang geborgen hatte. Das Hemd – es bestand aus zurechtgeschnittenen Fellen und war von Hand mithilfe einer primitiven Knochennadel sowie getrockneter Darmstränge zusammengenäht worden – stellte keinen Schatz dar, und Kit hätte es schon vor langer Zeit weggeworfen, wenn da nicht in einer beutelähnlichen Innentasche ein unbezahlbarer Gegenstand eingenäht wäre: Sir Henrys grünes Buch. Es war ein kleines Wunder, dass er es während seiner qualvollen Abenteuer nicht verloren hatte, und Kit hatte nicht die Absicht, es gerade jetzt zu verlieren. Er hievte sich den Rucksack wieder auf den Rücken, strich die Vorderseite seines geliehenen Priesterrocks gerade, zog an den voluminösen Ärmeln und sagte: »Okay. Mal sehen, ob wir unseren Weg zurück nach Prag ansteuern können, bevor weitere zehntausend Jahre vergangen sind. Glaubst du, dass du den Ley finden kannst?«
Mina sah sich um und blickte nach Süden auf die weißen Felsenwände aus Kalkstein, die durch die Bäume kaum sichtbar waren. »Sollte kein Problem sein«, meinte sie. »Wie dem auch sei: Wenn wir hierbleiben, werden wir wahrscheinlich von etwas Großem und Haarigem gefressen.«
»Dann also diesen Weg.« Kit führte sie zurück zum Rand der Schlucht und zu dem langen, nach unten führenden Pfad, der den Ley beinhaltete. Sie stiegen in das Tal und in die immer dunkler werdenden Schatten hinab. Auf der linken Seite des Pfads ragte die wie gemeißelt aussehende nackte Felswand empor, während das Gelände rechts in einem spitzen Winkel abfiel – hin zu dem dichten Gebüsch und den Wipfeln von Bäumen, die weiter unten am Hang wuchsen.
»Weißt du, ich konnte den Ley niemals erfassen, wenn er offen war«, erzählte er Mina, während sie nach unten gingen. »Ich habe es versucht, so oft ich nur konnte, doch ohne Erfolg, bis ich es schließlich aufgab. Aber ich hatte deine Lampe und dachte: Falls ich jemals über einen anderen Ley stolpern
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