DU HÖRST VON MIR
Tage niemals vergessen. Niemals, in meinem ganzen Leben. Irgendwann werde ich darüber schreiben.
Und du wirst mir über die Schulter schauen, wirst es lesen und genau darauf achten, was ich schreibe, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich die Wahrheit schreibe.
José blieb still, schaute auf die Bergspitzen.
»Ja, ja, du wirst es mir schon noch zu lesen geben, was?«
Der Hieb saß. Es konnte nicht wahr sein. Er war müde, völlig übermüdet. In der Nacht, in unserer Nacht hatte er so viel getrunken.
Ich suchte in meinem Gedächtnis rasch nach einem gemeinsamen Bezugspunkt.
»Erinnerst du dich, was wir vor ein paar Tagen studiert haben? In Literatur, sechzehntes Jahrhundert. Hätt ich Euer Antlitz nicht geschaut...«
»Nö... Worum ging's da?«
Ich wandte mich ihm zu, lächelnd: »Hätt ich Euer Antlitz nicht geschaut, so schmerzte es nicht, doch sähe ich auch Euer Antlitz nicht. Euch zu sehen, ist furchtbare Qual, doch Euch nicht zu sehen, wär viel schmerzlicher mir: Wäre nicht so verloren, doch verlöre viel mehr.«
José machte ein ratloses Gesicht.
»Nein, ich erinnere mich nicht.«
»Nun, wenn das in der Prüfung drangekommen wäre...«, flüsterte ich, ohne meine Augen von seinen abzuwenden, die ins Nichts blicken.
»Aber es kam ja nicht dran«, grinste er mich an, zufrieden.
»Bist du schon fertig mit deinem Bier? Wollen wir nicht weitergehen?«
Wir schulterten wieder die Rucksäcke und gingen weiter.
Er ging voran.
»Hey, José... «
»Was?«
Warum wich er meinem Blick aus? Warum bloß? Na ja, logisch, er war so müde, völlig fertig. Ich muss warten, bis er...
»Nichts. Schon gut. Lauf weiter.«
»Was hast du denn auf einmal? Soll ich das Zelt tragen?«
»Nein, ach Quatsch! Geh weiter«, murmelte ich, »ich trag es schon. Wir haben das Schlimmste noch vor uns.«
Miesmuscheln, Thunfisch, Käse, Venusmuscheln, ein Stück Salami, Tomaten, die wir in Caín gekauft hatten; hart gekochte Eier, die ich mit Salz, Öl, Paprika und Oregano anmachte.
Ein Festmahl. Das gesamte Essen, was für zwei Abende kalkuliert war, nun als ein einziges Abendessen. Wir würden zurückfahren, uns blieben nur noch wenige Stunden, gerade einmal noch eine Nacht. Wir schlugen unser Zelt in einer Senke auf, hundert Meter von der Stelle entfernt, wo morgen früh bei Tagesanbruch der Autobus halten würde, der uns zurück nach Hause bringen sollte. Die Sonne war gerade hinter den Buchenwäldern des Panderrueda untergegangen und in den unzähligen Baumkronen schimmerte das letzte Tageslicht. José, mit einem Kanten Brot in der Hand, schaute abwesend zu, wie die letzten Lichtstrahlen erstarben. Das letzte Licht des letzten Tages, dachte ich, ihn anschauend.
»Lass deinen Käse nicht kalt werden«, sagte ich zu ihm, mit leiser Stimme.
Wie sehr liebte ich ihn, wie unendlich stark war meine Liebe für ihn in diesem Moment, als er mich lange ansah, mit jener Sanftheit und Süße, mit dieser Schlichtheit, mit der er mir mein Grundnahrungsmittel gewährte: sein kleines Lächeln, die Anmut seines Gesichts, die Schönheit seiner Augen, die endlich in die meinen blickten, nachdem er mich den lieben langen Tag fast nicht angeschaut hatte und ich mich nicht in ihm hatte sehen können, mich nicht in ihm meiner selbst hätte vergewissern können, mich hätte lebendig fühlen können, denn dies war nunmehr meine einzige Möglichkeit: in ihm, durch ihn, für ihn. Ein ganzer langer Tag, an dem es mir nicht vergönnt gewesen war, den üblen Vorgeschmack der Angst aus meinem Inneren auszuspeien; den bitteren Geschmack der Stimmen, die seit heute Morgen immer lauter wurden, und sich immer tiefer in meine Seele hineinfraßen, Stimmen, die da flüsterten: Er liebt dich nicht, es war Lüge, er liebt dich nicht. Doch selbstverständlich liebte er mich, natürlich liebte er mich. Das stimmte doch, oder?
Oder? Es war in seinen Augen zu lesen, in ihrer Farbe und in ihrem Glanz, den ich endlich erblickte, den er mich endlich sehen ließ, nach der grausamen Folter, während des ganzen Tages, wo ich mich nicht in sie hatte versenken können, in der wohligen Wärme seines sanften Blickes hatte baden können, wie jetzt, da er mich anschaute, wie ich es mochte, wie ich es brauchte, um überhaupt weiter atmen zu können.
Ich lächelte schließlich, lebte auf, zündete mir eine Zigarette an und schaute hinüber zu den fernen Bergen, suchte mit meiner Hand seine Hand.
»Hast du eine Zigarette für mich?«, fragte er.
»Klar. Hier nimm
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