Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
Als sie wieder aufsah, hatte Marcus ihr den Rücken zugekehrt. Sie sah, wie er in seiner Hosentasche wühlte, bevor er die Hand zum Gesicht führte. Als er sich wieder umdrehte, hatte er das Glas an die Lippen gesetzt. Er stürzte das Wasser in einem Zug hinunter.
Sie räusperte sich. »Hast du schon gehört, dass Charles uns verlässt? Das heißt, dass die Chefreporterstelle frei wird. Aber wahrscheinlich dauert es wie immer eine Ewigkeit, bis die sich mal entscheiden, wer befördert wird.« Sie achtete auf einen möglichst neutralen Tonfall, um nicht zu verraten, dass sie sich selbst Hoffnung darauf machte.
Cynthia arbeitete schon seit sieben Jahren auf diese Position hin. Nach Charles hatte sie dem Sentinel mehr Exklusivberichte und Preise beschert als jeder andere Reporter. Sie wollte diese Beförderung unbedingt – so sehr, dass es fast schon an Verzweiflung grenzte.
Sie wartete, dass Marcus etwas sagte oder vielleicht sogar fragte, ob sie sich darauf bewerben wollte. Aber er starrte nur mit unbewegter Miene in sein leeres Glas. Cynthia trat nervös von einem Bein aufs andere. Sie hatte Schweigen noch nie gut ertragen können. »Du musst ganz erledigt sein«, sagte sie, nur um irgendwas zu sagen. »Ich bin es auch.«
Sie gähnte. Marcus’ Blick wanderte zu ihrem Mund. Und plötzlich verzerrte sich sein Gesicht. Die grauen Augen waren nur noch zwei schmale Schlitze, und die Oberlippe entblößte eine halbrunde Zahnreihe. Er wirkte … ja, wie eigentlich? Nicht wütend, aber etwas Ähnliches. Sie suchte nach dem richtigen Wort, aber es blitzte nur kurz in ihrem Bewusstsein auf wie ein Fisch, der in der Tiefe verschwindet, sobald man ihn zu fassen bekommen will. Dann war der Moment vorbei, und Marcus’ Züge wurden erneut ausdruckslos.
»Wir sollten wieder zurück an den Schreibtisch«, sagte er.
»Ich denke auch.«
Er spülte sein Glas aus und stellte es wieder auf den Kühlschrank.
Sie verließen die Küche gemeinsam, aber auf dem Weg zur Lokalredaktion ging er immer schneller und sorgte so für Abstand.
Nach der siebten Partie Solitaire sah Cynthia von ihrem Computer auf und merkte, dass es Morgen wurde. Rosa Wolkenschlieren leuchteten vor einem blassgrauen Himmel.
»Das wurde weiß Gott Zeit!«, murmelte sie.
Es war 7 Uhr 39. In vierundzwanzig Minuten würde sie frei sein, durch die Stadt laufen, einem freudigen Wiedersehen mit ihrem Kopfkissen entgegen, während die von der Tagschicht frisch erholt und ihre Aktenkoffer schwenkend an ihr vorbeieilten. Sie legte ihren Oberkörper auf denSchreibtisch und ließ den Kopf in der Armbeuge ruhen. Ihr fielen die Augen zu.
Sofort begann sie zu träumen. Sie träumte, dass ihr Vater noch lebte und neben ihr den Strand von Bournemouth entlangrannte. Sonne tauchte die Szene in buntes Licht und brachte die Farben zum Funkeln.
»Wer als Letzter beim Pier ist, bezahlt das Eis!«, rief er lachend. Cynthias sieben Jahre alte Beine trabten eifrig über die Strandkiesel, obwohl sie insgeheim wusste, dass er sie gewinnen lassen würde. Denn er war schließlich ihr Daddy, und sie war seine kleine …
»Cynthia?«
Sandra Hobbs berührte ihre Schulter und sah sie so seltsam an. Cynthia blinzelte und spürte den schmerzlichen Verlust, als sie wieder auf dem Boden der Realität angelangt war. Um sie herum nahm der Redaktionsraum Konturen an. Auf einmal war er von Lärm und Gewusel erfüllt. Reporter scharten sich um den Wasserspender. Jacken wurden über Stuhllehnen gehängt. Morgenzeitungen raschelten. Zu ihrer Rechten beschwerte sich die »Mit den Augen einer Frau«-Kolumnistin laut über ein Ausrufezeichen, das ihrem Text hinzugefügt worden war.
Cynthia rieb sich die Augen. »Oh, tut mir leid, ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?«
»Höchste Zeit, dass du ins Bett kommst«, sagte Sandra und ließ sich auf den benachbarten Stuhl fallen. »Die Ablösung ist da.«
Cynthia blinzelte benommen. Die Stadt drang durch die Fenster herein, frisch, klar und fast unwirklich hell. Gesprächsfetzen wehten vorbei wie Blätter im Sturm.
»Ihr wisst genau, was ich von Ausrufezeichen halte. Das klingt dann immer so wow -mäßig. Das ist …«
»Gehst du auf Matts Party? Die Jungs vom Sport sind zwar allesamt Schweine, aber dafür ziemlich süß. Vielleicht – «
»Die haben meinen Labour-Artikel ganz nach unten auf Seite sieben geschoben. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir überhaupt noch die Mühe mache …«
Lauter Leute von der Tagschicht, deren Energie
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