Du sollst nicht schlafen: Thriller (German Edition)
sie schier überwältigte. Sie stand etwas wacklig auf und schlüpfte in ihren Mantel. Erst als sie den Lift erreicht hatte, sah sie, dass Marcus immer noch an seinem Schreibtisch saß. Mit einem Ping! öffneten sich die Lifttüren und spuckten zwei Wirtschaftsredakteure in Burberry-Trenchcoats aus. Sie zögerte. Die Wirtschaftstypen gingen weiter und diskutierten über Immobilienpreise. Cynthia betrat den Lift, hielt dann aber inne, den Finger auf dem Halteknopf, und beobachtete ihn.
Marcus griff zum Telefon und wählte, neben ihm lag ein frischer Notizblock. Als der Lärmpegel im Raum kurz sank, konnte sie verstehen, was er sagte: »Höchste Zeit, dass Sie Zahlen nennen.« Dann schwoll der Lärm wieder an und übertönte alles andere. Marcus legte auf und konzentrierte sich wieder auf seinen Bildschirm. Sie starrte ihn an. Die Nachtschicht war vorbei, sein letzter Artikel abgegeben. Warum war er immer noch hier? Vielleicht sollte sie ihn fragen. Rausfinden, was er vorhatte, ob er …
»Fährst du nach unten?«
Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Es war Matt aus der Sportredaktion. Er warf einen vielsagenden Blick auf ihren Finger, der nach wie vor den Halteknopf gedrückt hielt.
»Oh, hallo!«, sagte sie und schwankte leicht, als eine Welle der Erschöpfung sie übermannte. Wen interessierte schon, was Marcus da tat? Die lange Nachtschicht war endlich vorüber, und es war höchste Zeit, dass sie ins Bett kam. Alles andere spielte keine Rolle. »Ja«, sagte sie, lächelte Matt an und ließ ihren Finger zum Erdgeschoss-Knopf wandern. »Nach unten.« Dann schlossen sich die Türen, und Marcus war verschwunden.
Erst vierzehn Stunden später dachte sie erneut an ihn.
2
Man kann schon sagen, dass ich unter einem Unglücksstern geboren wurde. Es ist nicht gerade ein guter Start ins Leben, wenn die eigene Mutter in der Siedlung nur »die Katholikenschlampe« genannt wird. Wir waren acht Kinder (von fünf Vätern), sodass mich Mum kaum wahrnahm, wenn es nicht gerade Probleme gab. Dass sie trank, machte es nicht besser. Als ich sechzehn war, wachte sie mal auf dem Sofa neben einer leeren Ginflasche auf, stützte sich auf den Ellenbogen und schrie: »Jeff! Warum zum Teufel bist du nicht in der Schule?« Da musste ich sie daran erinnern, dass ich schon seit zwei Jahren nicht mehr hinging, nachdem man mich rausgeworfen hatte. Das war übrigens nicht meine Schuld. Vieles ist meine Schuld, und das gebe ich auch sofort zu. Aber an dem Tag, an dem ich von der Schule geflogen bin, habe ich das Richtige getan.
Da war dieses Mädchen, Savannah. Ich hatte gerade heimlich eine Zigarette hinter dem Fahrradschuppen geraucht und war auf dem Weg zurück zum Klassenzimmer, als ich sah, wie sie etwas an die Mauer des Kindergartens sprühte. Sie sah hübsch aus und hatte lange schwarze Haare, die ihr fast bis zum Po reichten. Was sie da schrieb, waren nicht die üblichen Schimpfwörter oder Sätze, dass irgendwer ihr-wisst-schon-was mit irgendwem machen will. Stattdessen hatte sie »Bo Peep hat’s wegen der Versicherung getan« an die Wand gesprüht. Der alte Kinderreim schoss mir durch den Kopf: » Little Bo-Peep has lost her sheep …« Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, was sie damit meinte,aber dann fiel der Groschen, und ich musste lachen. Da drehte sie sich um und sah mich.
Sie war ein Jahr älter als ich, aber sie schnauzte mich nicht an, dass ich verschwinden soll, und sie redete auch nicht mit mir, als wär ich ein Baby oder behindert. Nein, sie lächelte und trat von der Mauer weg, sodass sie neben mir stand und sich unsere Arme beinahe berührten. Ihre Nähe machte mir heftiges Herzklopfen.
»Wie findest du’s?«, fragte sie und zeigte mit dem Kinn auf die Worte, die noch feucht glänzten. Dann sah sie mir direkt in die Augen und wartete, so als wäre ihr meine Meinung wirklich wichtig. Ich schluckte schwer und dachte nach. Ich wollte sie beeindrucken. Okay, im Grunde wollte ich mit ihr knutschen. In diesem Moment war das mein sehnlichster Wunsch. Aber natürlich konnte davon keine Rede sein: nicht mit so einem Mädchen, das ein Jahr älter war als ich, lange Haare, schöne Brüste und echt was im Kopf hatte.
»Das ist … witzig«, sagte ich, bis mir was Besseres einfiel: »Geistreich.« Damit war ich zufrieden.
»Danke«, erwiderte sie und gab mir ihre Spraydose. Sie wischte sich die Hände an der Hose ab. »Das ist urbane Poesie.«
»Cool. Ist das dein erstes?« Ich wollte eigentlich nur das Gespräch
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