Du sollst nicht sterben
Hafen navigieren – er hatte sämtliche Admiralitätskarten auswendig gelernt. Allerdings besaß das Boot keinen Motor. Eines Tages hätte er gern ein eigenes Boot mit Motor, und dann würde er an all die Orte fahren, die er in seinem Kopf gespeichert hatte. Oh ja.
Bosun leckte an seiner Hand, die aus der Koje hing. Bosun war ein großer, geschmeidiger roter Kater, der hier das Sagen hatte. Der wahre Kapitän des Schiffes. Jak wusste, dass ihn die Katze als ihren Diener betrachtete. Es war ihm egal. Die Katze hatte jedenfalls noch nie in sein Taxi gekotzt.
Der Geruch von teurem, neuem Leder stieg ihm in die Nase. Oh ja. Es war wie im Paradies, mit einem neuen Paar Schuhe aufzuwachen.
Und das bei auflaufender Flut!
Das war das Schönste, wenn man auf dem Wasser lebte. Man hörte keine Schritte. Jak hatte versucht, in der Stadt zu wohnen, aber es hatte nicht funktioniert. Er konnte nicht die verlockenden Geräusche der vielen Schuhe ertragen, die um ihn herum klapperten, wenn er zu schlafen versuchte. Hier draußen an der Anlegestelle des Adur River am Strand von Shoreham gab es keine Schuhe. Nur das Klatschen des Wassers und die Stille des Wattenmeeres. Die Schreie der Möwen. Manchmal auch das Geschrei des acht Monate alten Babys vom Boot nebenan.
Hoffentlich fiel das Kleine bald mal ins Watt und ertrank.
Aber im Moment freute sich Jak auf den bevorstehenden Tag. Aufs Aufstehen. Darauf, die neuen Schuhe zu untersuchen. Sie zu katalogisieren. Dann vielleicht seine Sammlung durchzusehen, die er an geheimen Orten auf dem Boot untergebracht hatte. Dort bewahrte er unter anderem auch seine Sammlung elektrischer Schaltpläne auf. Danach würde er in sein kleines Büro am Bug gehen und einige Zeit am Computer verbringen.
Konnte man das neue Jahr besser beginnen?
Zuerst aber musste er die Katze füttern.
Davor musste er sich die Zähne putzen.
Und davor musste er zur Toilette.
Dann würde er das Boot routinemäßig überprüfen und alles auf der Liste abhaken, die er von den Besitzern bekommen hatte. Zuerst musste er die Angelleinen überprüfen. Dann das Schiff auf Lecks absuchen. Lecks waren nicht gut. Dann musste er die Schiffstaue überprüfen. Die Liste war lang, und es tat gut, sie abzuarbeiten. Es war gut, gebraucht zu werden.
Er wurde von Mr Raj Dibdoon gebraucht, dem das Taxi gehörte.
Er wurde von der Krankenschwester und dem Zimmermann gebraucht, denen sein Heim gehörte.
Er wurde von der Katze gebraucht.
Und heute Morgen hatte er ein neues Paar Schuhe!
Das war ein guter Anfang für das neue Jahr.
Oh ja.
7
Jetzt
Donnerstag, 1. Januar
Carlo Diomei war müde. Und wenn er müde war, drückte das auf seine Stimmung. Er mochte die langen, feuchten englischen Winter nicht. Er vermisste die frische, trockene Kälte seines Heimatortes Courmayeur hoch oben in den italienischen Alpen. Er vermisste den Winterschnee und die Sommersonne. Er vermisste es, an seinen freien Tagen die Ski anzuschnallen und ein paar kostbare Stunden allein zu verbringen, weit weg von den Urlaubermassen auf den vielbefahrenen Pisten, und lautlose Spuren auf Strecken in den Bergen zu ziehen, die nur er und ein paar einheimische Fremdenführer kannten.
Sein Vertrag lief noch ein Jahr. Danach würde er hoffentlich in die Berge zurückkehren und mit etwas Glück eine Stelle als Hotelmanager bekommen. Wieder unter Freunden sein.
Im Augenblick aber verdiente er gut, und die Erfahrungen, die er in diesem berühmten Hotel sammeln konnte, würden ihm sehr nützlich sein. Scheiße, aber das neue Jahr hatte ganz schön blöd angefangen!
Normalerweise arbeitete er in der Tagschicht und konnte die kostbaren Abende zu Hause in der Mietwohnung mit Blick aufs Meer verbringen, in der er mit seiner Frau, seinem zwei Jahre alten Sohn und seiner vierjährigen Tochter lebte. Doch der Nachtmanager hatte sich ausgerechnet den Silvestertag ausgesucht, um Grippe zu bekommen. Also hatte er dessen Schicht nach einer nur zweistündigen Pause übernehmen müssen, in der er nach Hause gesaust war, seine Kinder ins Bett gebracht und mit seiner Frau und einem Glas Mineralwasser statt dem geplanten Champagner aufs neue Jahr angestoßen hatte, bevor er wieder ins Hotel geeilt war, um die Silvesterfeiern zu überwachen.
Er war jetzt seit achtzehn Stunden im Dienst und völlig erschöpft. In einer halben Stunde würde er an seinen Stellvertreter übergeben, endlich nach Hause fahren, sich die dringend benötigte Zigarette genehmigen, ins Bett fallen und sich
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