Du sollst nicht sterben
berührt. Der kleine Tommy Lytle. Vor siebenundzwanzig Jahren war der Elfjährige an einem Nachmittag im Februar auf dem Heimweg von der Schule ermordet worden. Die einzige Spur war ein Morris-Minor-Lieferwagen, den man in der Nähe des Tatortes gesehen hatte. Aus den Akten wurde ersichtlich, dass der damalige Ermittlungsleiter davon überzeugt gewesen war, dass es sich bei dem Besitzer des Lieferwagens um den Täter handelte, doch hatte man keine stichhaltigen Beweise finden können, die den Jungen mit dem Lieferwagen in Verbindung brachten. Der Mann, ein seltsamer Einzelgänger und vorbestrafter Sexualtäter, wurde freigelassen. Er war noch am Leben, wie Grace wusste.
Er wandte sich der nächsten Akte zu, der Operation Houdini. Dem Schuh-Dieb.
Die Namen der Operationen wurden willkürlich vom Computer ausgewählt, erwiesen sich aber bisweilen als ganz passend. So wie dieser. Wie die großen Entfesselungskünstler war auch dieser Täter bislang der Polizei nicht ins Netz gegangen.
Der Schuh-Dieb hatte im Jahre 1997 innerhalb eines kurzen Zeitraums mindestens fünf Frauen in der Gegend von Brighton vergewaltigt oder dies versucht, und aller Wahrscheinlichkeit nach ein sechstes Opfer, dessen Leiche nie gefunden worden war, vergewaltigt und getötet. Es konnten aber durchaus noch mehr Opfer sein, viele Frauen schämten sich oder waren zu traumatisiert, um eine solche Tat anzuzeigen. Dann plötzlich hörten die Übergriffe auf. Bei keinem der Opfer hatte man DNA-Spuren sicherstellen können. Doch die Techniken waren damals auch noch nicht so ausgeklügelt gewesen.
Sie konnten sich nur auf die Vorgehensweise des Täters stützen. Auf seine ganz spezielle »Handschrift«. Und die war beim Schuh-Dieb sehr markant: Er nahm die Slips und einen Schuh seiner Opfer mit. Aber nur, wenn es sich um hochklassige Schuhe handelte.
Grace hasste Vergewaltiger. Er wusste, dass jedes Verbrechensopfer traumatisiert blieb, doch die meisten Opfer von Einbrüchen und Straßenraub kamen irgendwann darüber hinweg. Opfer von sexuellem Missbrauch oder sexuellen Übergriffen, vor allem Kinder und Vergewaltigungsopfer, überwanden das Erlebte hingegen meist nie. Sie verbrachten den Rest ihres Lebens damit, gegen die Erinnerungen zu kämpfen, ihren Ekel zu unterdrücken, ihre Angst und ihre Furcht.
Es war eine traurige Tatsache, dass die meisten Opfer von Personen vergewaltigt wurden, die sie persönlich kannten. Übergriffe durch Fremde waren sehr selten, kamen aber auch vor. Und es war nicht ungewöhnlich, dass diese sogenannten Fremdvergewaltiger ein Souvenir mitnahmen, eine Art Trophäe. So wie der Schuh-Dieb.
Grace blätterte in der dicken Akte und überflog die Liste mit anderen Vergewaltigungsfällen im Land. Im selben Zeitraum hatte es einen Fall weiter nördlich gegeben, der verblüffende Ähnlichkeit mit dem des Schuh-Diebs aufwies. Doch man hatte eindeutig nachweisen können, dass es sich nicht um denselben Täter handelte.
Nun, Schuh-Dieb, fragte sich Grace, bist du noch am Leben? Und wenn ja, wo steckst du?
4
Jetzt
Mittwoch, 31. Dezember
Nicola Taylor fragte sich, wann dieser höllische Abend zu Ende gehen würde, dabei hatte die Hölle noch gar nicht begonnen.
»Die Hölle, das sind die anderen« ,hatte Jean-Paul Sartre geschrieben, und sie stimmte ihm zu. Jetzt gerade war die Hölle der Betrunkene mit der schief sitzenden Fliege rechts von ihr, der ihr sämtliche Handknochen zerdrückte, und der noch betrunkenere Mann links von ihr in der grünen Smokingjacke, dessen verschwitzte Hand schleimig wie abgepackter Speck war. Und die anderen dreihundertfünfzig lärmenden, betrunkenen Menschen um sie herum.
Beide Männer rissen ihr fast die Arme aus den Gelenken, als die Band im Ballsaal des Brighton Metropole Hotels um Schlag Mitternacht Auld Lang Syne anstimmte. Der Mann zu ihrer Rechten hatte sich einen Groucho-Marx-Schnurrbart aus Plastik in die Nasenlöcher geklemmt, während der linke, dessen schleimige Hand viel Zeit damit verbracht hatte, sich an ihrem Oberschenkel emporzuarbeiten, ständig in eine Pfeife blies, die sich wie eine furzende Ente anhörte.
Sie wollte wirklich, wirklich nicht hier sein. Wäre sie doch bei ihrer Entscheidung geblieben, es sich mit einer Flasche Wein vor dem Fernseher gemütlich zu machen, wie sie es die meisten Abende im letzten Jahr getan hatte, seit ihr Ehemann sie wegen seiner vierundzwanzigjährigen Sekretärin verlassen hatte.
Aber nein, ihre Freundinnen Olivia, Becky und Deanne
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