Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Männer auf sie zu. Ihre Hosen sind bis über den Bauchnabel hochgezogen. Ihre Körpersprache sagt: »Legt euch nicht mit uns an. Wir sind bereit.« Der Geheimdienst will zeigen, dass er alles unter Kontrolle hat. Doch die Moscheebesucher gehen an den Männern vorbei, als existierten sie nicht.
Scheikh Al-Buti fährt in seinem Jeep langsam durch die Menge. Als er auf unserer Höhe ist, kurbelt er das Fenster herunter und reicht uns seine gegerbte Hand. »Herzlich willkommen, grüßen Sie Deutschland«, sagt er und lächelt uns mit seinem zerfurchten Gesicht freundlich an. Dann fährt er weiter.
Unter einem kleinen, schattenspendenden Dachvorsprung der Moschee warten wir auf den Mann, der uns geholfen hat, am Freitagsgebet teilzunehmen. Er kommt als einer der Letzten. Er heißt Aziz, hat lange im Ausland gelebt und spricht fließend Englisch. Während ich mich mit ihm unterhalte, umkreist uns ein Geheimdienstler mit Nussknackergesicht. Immer enger zieht er seine Kreise. Am Ende ist sein grimmiges Gesicht ganz nah. Doch er hat Schwierigkeiten, unsere Sprache zu verstehen. Obwohl seine Ohren immer länger werden.
Aziz lässt sich nicht beeindrucken. Offen sagt er seine Meinung. Assad müsse die Reformen des Landes energischer vorantreiben. Und die sozialen Probleme der Vorstädte und der ländlichen Regionen anpacken. Die Demonstranten hätten in vielen Punkten recht. Die Sicherheitskräfte hätten auf die ersten Kundgebungen völlig unangemessen reagiert. Doch die Reaktionen einiger Demonstranten seien auch nicht so friedlich gewesen, wie Al-Dschasira berichtet habe.
Leider habe sich das Ausland früh eingemischt. In Daraa beispielsweise seien die Aufständischen schon nach wenigen Tagen bewaffnet gewesen. Von da an hätten die Kundgebungen zunehmend ihren Charakter verändert. Demokratie stehe nicht mehr im Vordergrund. Die Waffen seien aus Katar, Saudi-Arabien und der Türkei ins Land geschmuggelt worden. Die meisten Syrer und die Mehrzahl der demokratischen Demonstranten seien gegen diese Einmischung des Auslands. Sie wollten auch nicht den Sturz Assads. Der Präsident sei nicht das Problem. Tunesien, Ägypten und Libyen seien für die Syrer kein Vorbild.
Aber Assad laufe die Zeit davon. Aziz schaut auf seine Uhr. »Mir auch«, lacht er und verabschiedet sich herzlich. »Wenn Sie ein Problem haben, rufen Sie an«, sagt er und gibt mir seine Visitenkarte. Auch der Geheimdienstler hätte die gerne. Doch Aziz ist bereits wie ein Phantom in der Menge verschwunden.
Tanaya, das Straßenmädchen aus Bagdad
Syrien hat in der jüngeren Vergangenheit großzügig immer wieder Flüchtlinge aufgenommen. 400000 Palästinenser und 1,5 Millionen Iraker haben hier zeitweise Asyl gefunden. 59 Die meisten in Damaskus.
Gemeinsam mit Hakim fahren wir nachmittags in einen dieser Flüchtlingsvororte. Ins »Palästinenserviertel« Jarmuk. Hier lebt Tanaya, ein Straßenkind aus Bagdad. Sie ist vor einigen Jahren vor der Gewalt im Irak nach Syrien geflohen. Außer einer alten Tante hat sie niemanden mehr auf dieser Welt. Sie ist erst 27 Jahre alt, aber sie hat längst jeden Mut verloren. Sie hat keinen Beruf und will auch nicht heiraten. Sie traut sich nicht einmal allein in die Gassen ihres Viertels.
Mit ihrer Tante lebt sie in einer ärmlichen, aber blitzsauberen Wohnung. Vielleicht wird sie irgendwann wieder fliehen müssen. Doch sie weiß nicht, wohin. Sie nennt mich »Vater«, weil ich sie und ihre Tante finanziell unterstütze. Aber ich bin nicht ihr Vater. Sie hat keinen Vater. Als ich sie angesichts ihrer totalen Mutlosigkeit fast verzweifelt frage, ob sie denn gar keine Träume habe, überlegt sie kurz. Dann antwortet sie: »Träume? Nein, ich habe keine Träume.«
Als wir gehen wollen, zeigt sie uns ihren winzigen, schattigen Hinterhof. Hier stehen Plastiktöpfe mit kleinen Pflanzen. Tanaya pflückt die beiden einzigen Blumen, die es gibt. Sie schenkt sie Julia und mir.
Es ist das letzte Mal, dass ich Tanaya sehe. Wenige Monate später verschwindet sie zusammen mit ihrer Tante spurlos aus Jarmuk. Ist sie vor den aufkommenden Unruhen im Palästinenserviertel zurück in den Irak geflohen? Wir telefonieren alle ihre Bekannten ab. Doch die Nachforschungen bleiben erfolglos. Ich mache mir große Sorgen. Beide sind mittellos. Ich hoffe, sie leben noch. Wie kann ich Tanaya finden?
Spätabends gehen wir noch einmal durch das Christenviertel. Ich muss den Kopf freibekommen, will die Traurigkeit Tanayas vergessen. Und die
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