Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
deutlicher. »Wir kehren jetzt um. Ich bin nicht lebensmüde!« Auch Frédéric will zurück.
Auf dem Rastplatz kommt uns ein Taxi entgegen. Scharif bespricht sich lange mit dessen Fahrer. Dann meint er, auch der Taxifahrer glaube, man könne es versuchen. Er deutet auf die Explosionswolken über Homs. Da könnten wir jetzt nicht mehr hin. Wir kämen nie mehr an den Checkpoints vorbei. Da sei ihm Damaskus lieber. Da könne er normal übernachten und wir auch. Ob die Rückfahrt nach Damaskus morgen ungefährlicher sei, wisse nur der Allmächtige. Bevor wir antworten können, fährt er los.
Scharif ist nervös. Er lehnt sich weit nach vorne. Er möchte schnell reagieren können, falls es notwendig wird. Mich bittet er, nach hinten zu rutschen. Damit ich nicht direkt am Fenster säße, wenn jemand von der Seite schieße.
Ständig fasst er an sein rechtes Ohrläppchen und murmelt: »Bismillah – Gott erbarme dich!« Frédéric ist trotz seiner Körpergröße von 1,90 Metern so tief im Rücksitz versunken, dass ich ihn kaum noch sehe. Er beschwert sich nicht. Nur von Zeit zu Zeit sagt er leise: »Yallah, yallah – los, Tempo!«
Scharif fragt mich, ob ich mich nicht hinlegen könne. Aber wie soll ich mich in diesem kleinen Auto hinlegen? Ich quetsche schon jetzt Frédérics Beine ein.
Am Straßenrand sehen wir ein in Brand geschossenes, noch immer rauchendes Fahrzeug. Frédéric fragt, was wir tun, wenn vor uns eine Straßensperre auftaucht. Wie erkennen wir, ob es sich um Soldaten oder um Aufständische handelt? Beide tragen ja meist die gleiche Uniform.
Wie sind wir bloß in diese grauenvolle Situation geraten? In Libyen ahnte ich nicht, dass unsere Straße beschossen werden könnte. Aber hier waren wir ausdrücklich gewarnt worden. Irgendwo, ganz in der Nähe, befinden sich Aufständische, die nur auf den richtigen Augenblick warten, um zuzuschlagen. Die uns vielleicht gerade jetzt, verborgen hinter Büschen und Bäumen, beobachten. Wie Jäger das Wild auf einer Waldlichtung.
Die Fahrt will und will nicht enden. 160 Kilometer sind eine große »Waldlichtung«. Vor uns fährt ein schwerer Lastwagen. Ich bitte Scharif, sich an den Laster dranzuhängen, seinen Schutz zu suchen. Doch er rast an dem Lkw vorbei. Seit dem Rastplatz fährt er nur noch Vollgas. Frédéric macht es nervös, dass Scharif sich ständig an sein Ohrläppchen fasst.
Fast unhörbar fragt er ihn, ob wir es schaffen würden. »Inschallah«, antwortet Scharif. »So Gott will.« Dann fügt er hinzu: »Bismillahi rahmani rahim – Gott ist barmherzig.« Doch die Zeit will nicht verrinnen. Wir fahren und fahren. Wann endlich kommt die Hauptstadt?
Plötzlich brüllt Frédéric von hinten: »Damaskus, da vorne ist Damaskus!« Er packt Scharif an den Schultern und schüttelt ihn. Fast zwei Stunden hatte er seine Sorgen tapfer runtergeschluckt. Jetzt bricht alles aus ihm hervor. Er lacht, schreit und klopft Scharif immer wieder auf die Schulter. »Alhamdulillah – danken Sie Gott, nicht mir!« murmelt Scharif. Er hat ein sehr schlechtes Gewissen.
Damaskus ist wieder das völlige Kontrastprogramm zum geisterhaften Homs. Die Straßen und Geschäfte sind überfüllt, die Menschen sind freundlich und lachen. Auch wenn sich das im Westen niemand vorstellen kann und die Politiker täglich das Gegenteil berichten. Der Krieg scheint weit weg zu sein.
Scharif taut langsam auf. Er habe Freunde auf beiden Seiten, sagt er. Aber überall herrschten Hass und Rache. Regierung und Rebellen hätten schwere Fehler begangen. Das sei die Tragik aller Bürgerkriege: Aus Freiheitskämpfern würden Terroristen, aus Soldaten Mörder. Im Spanischen Bürgerkrieg seien über 300000 Menschen getötet worden, im Amerikanischen Bürgerkrieg über 600000 – von damals 31 Millionen US -Bürgern. Aber wehe, man vergleiche den syrischen mit dem amerikanischen Bürgerkrieg. Obwohl auch der voll entsetzlicher Massaker an Frauen und Kindern war.
Vor wenigen Tagen sei er bei der Beerdigung eines jungen Soldaten gewesen. Auch dieser Soldat sei ein Kind Syriens. Ein Drittel der Toten seien Soldaten, ein Drittel Rebellen, ein Drittel Zivilisten. »Wir Syrer bringen uns gegenseitig um. Und keiner weiß einen Ausweg.«
In unserem Hotel gibt es, anders als heute morgen, wieder Internetempfang. Eine als »wichtig und dringend« gekennzeichnete E-Mail springt mir ins Auge. Sie stammt von einem Freund, der uns Scharif als Fahrer empfohlen hatte. Um 8 Uhr morgens hatte er gemailt: »Bitte
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