Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
haben. Umgeben von Syrern. Mitten im Krieg. Was für eine verrückte Welt!«
Als Spanien in der 41. Minute das vorentscheidende 2:0 erzielte, rissen die meisten Syrer jubelnd die Arme hoch. Manche umarmten sich. Wie Millionen von Syrern. Die syrische Mehrheit war für kurze Zeit einmal nicht für oder gegen Assad, sondern für Spanien.
Der Jubel war kaum verebbt, als wir ein lautes »Womm« hörten. Eine dumpfe Explosion, einige Kilometer entfernt. Doch keiner der Zuschauer beachtete sie. Kurz danach, in der 42. Minute, erneut: »Womm«. Wieder reagierte niemand. Vielleicht war es ja gar keine Explosion. Vielleicht hatte nur jemand ganz in der Nähe eine Tür laut zugeschlagen. Doch das folgende Maschinengewehrfeuer in der Ferne wies eindeutig auf ein Gefecht hin. Für einen Augenblick drehten sich einige Zuschauer um. Doch dann nahm sie wieder das Fußballfest gefangen. Das Feuerwerk, das die Spanier bei ihrem 4:0 gegen Italien abbrannten, fanden sie viel spannender als die Knallerei in der Stadt.
Als ich mich um Mitternacht ins Bett fallen ließ, ging Frédéric aufs Dach unseres Hotels. Er konnte bei der Schießerei, die nicht enden wollte, nicht schlafen. Über Google erfuhr er, dass an einer Polizeistation im Stadtzentrum mehrere Sprengsätze und eine Autobombe explodiert seien. Dann sei die Armee gekommen. Mit Hubschraubern. Es habe sechs Tote gegeben. Frédéric blieb lange auf dem Hoteldach. Schlaflos in Bab Tuma.
Die Scharfschützen des Regimes
Am nächsten Mittag waren wir mit Hanna verabredet. Hanna war Mitglied der demokratischen innersyrischen Opposition, der »Koalition für den friedlichen Wandel«. Wir erwarteten ihn im Konferenzsaal unseres Hotels. Es war sehr heiß. 35 Grad im Schatten. Wir tranken Unmengen von Wasser.
Er kam mit einer vierköpfigen sunnitischen Familie aus Homs. Mit Nadia, der 40-jährigen Mutter, der 23-jährigen Sabrin, dem achtjährigen Ibtasam und dem fünfjährigen Mohammad. Nadias Mann war seit einem Autounfall vor vielen Jahren gelähmt. Die Familie hatte seither von dem gelebt, was Bassam, der älteste Sohn, als Maurer verdiente. Doch Bassam war im April 2012 von Scharfschützen des Regimes erschossen worden. Auf einer Demonstration in Homs. Er war sofort tot.
Da inzwischen auch ihr Haus bei Kämpfen zerstört wurde, war die Familie mittellos. Sie lebte in Homs in einem geräumten Schulgebäude. Wie andere ausgebombte Familien. Dort erhielt sie Essensrationen. Sonst nichts. Es gab Abertausende solcher Schicksale in Syrien.
Frédéric fragt Hanna, wie es mit der Familie weitergehen werde. Hanna schaut Frédéric lange an. Er weiß nicht, wie offen er sein soll. Dann sagt er ernst: »Da auch die Verwandten nichts besitzen, wird Nadia ihre Tochter schnell verheiraten müssen. Oder verkaufen. Vielleicht an einen Ausländer. Für ein paar hundert Dollar.«
Frédéric ist fassungslos. »Verkaufen, richtig verkaufen?«, fragt er und sinkt in seinem Stuhl zusammen. »Nein, offiziell wird es eine Heirat sein. Mit allen Dokumenten. Für ein paar Ferienwochen. Dann wird man sie nach Hause schicken. Geschieden. Wieder mit allen Papieren. Doch dann ist sie wertlos. Zumindest für einen syrischen Mann.«
Frédéric schaut mich an. »Kannst du nicht helfen? Stell dir vor, wir müssten Valérie oder Nathalie verkaufen!«
Doch was soll ich tun? Ich unterstütze schon Kinder in Afghanistan, Pakistan, im Irak, im Kongo und anderen Krisenländern. Für einige Kinder und ihre Familien bin ich die einzige Einkommensquelle. Das bringt auch Verantwortung mit sich. Von den endlosen Schwierigkeiten mit Überweisungen in Krisenländer ganz abgesehen. Um Waisenkindern in Pakistan den Besuch einer guten Schule zu ermöglichen, mussten Belal und ich mehrfach nach Peschawar reisen. In die gefährlichste Stadt Pakistans.
Wer Geld nach Syrien überweist, läuft Gefahr, sich auf irgendwelchen Sanktionslisten wiederzufinden. Mit schlimmen, unter Umständen strafrechtlichen Folgen. Wie sollten wir sicherstellen, dass Sabrin am Ende nicht doch »notverheiratet« würde? Hanna meint, dass er das garantieren könne. Ich verspreche nachzudenken.
Während wir weiter Wasser in uns hineingießen, verabschiedet sich Nadia mit ihrer Familie. Wie schön wäre es, wenn alle, die sich für eine »humanitäre Militärintervention« in Syrien einsetzen, jeden Monat 50 Dollar für eine ausgebombte syrische Familie spendeten! Aber beim eigenen Portemonnaie hört die humanitäre Begeisterung oft auf.
Frédéric
Weitere Kostenlose Bücher