Duell auf offener Straße
„Platz“ hinterher und ein lautes „Nein“. Er scheint „Attacke“ verstanden zu haben. Es ist vergebens. Ben steht auf beiden Hinterbeinen, hängt sich fast auf, während er mit hochgezogenen Lefzen den anderen Hund angeifert und sich wahrscheinlich darüber freut, dass seine Besitzerin sein Hobby teilt. Zu zweit pöbelt es sich einfach schöner.
Der Besitzer von Asco lächelt und sagt etwas, das nach „Guten Abend“ klingt. Was von ihm als nette soziale Geste gemeint war, drückt für sie sein Mitleid und seine Überlegenheit aus. Wie konnte sie ihn jemals mögen? Er hat keine Probleme, seinen Hund zu halten, Asco zieht nicht, Ben hingegen schon. Mehr als einmal hat er es geschafft, sie über den Gehweg zu schleifen. Diesmal gelingt ihm das zwar nicht, fertig ist sie trotzdem. Als Asco samt Besitzer an ihnen vorbei ist, atmet Ben – inzwischen wieder auf allen vieren – den beiden noch einmal lautstark hinterher, schüttelt sich und rempelt in einem kurzen Sprung seine Besitzerin an. Er fühlt sich triumphal, sie fühlt sich miserabel. Vor dem Spiel ist nach dem Spiel – das wissen beide.
Noch dreihundert Meter Abendrunde. In vielen Fenstern geht das Licht aus. Ben hebt noch mehrmals das Bein, sie entspannt sich langsam. Eine letzte Straßenecke – es ist geschafft – keiner sonst ist noch unterwegs. Das nächste Mal, sagt sie sich, gehe ich nach dem Nachtmagazin. Dann ist hier niemand. Zu Hause läuft noch der Fernseher. Der Krimi hat begonnen. Ihr Krimi ist vorbei.
Warum macht er das?
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Warum verhält sich mein Hund aggressiv an der Leine? Diese Frage ist bei Hundehaltern sehr beliebt, aber gleichermaßen schwierig zu beantworten. Sie zielt darauf ab, dass es den einen Grund oder die eine Ursache für ein Verhalten geben muss. Schaut man sich aber die Komplexität sozialer Kommunikation an, so wird die Beantwortung nahezu unmöglich. Die Antwort könnte lauten: weil er nie ohne Leine läuft und deshalb frustriert ist. Weil er seinen Besitzer oder sein Territorium verteidigt. Weil er grundsätzlich unausgelastet ist und nur zehn Minuten vor die Tür kommt. Weil er sich zurzeit in der Pubertät befindet und seine Hormone ihn verwirren. Weil seine Besitzerin Angst vor anderen Hunden hat und sich dementsprechend unsicher verhält. Weil er das mitgeführte Futter oder seinen Ball verteidigt. Weil er als junger Hund einen Beinbruch und dadurch keinen Kontakt zu Artgenossen hatte oder aktuell unter Schmerzen leidet. Weil seine Besitzer ihn ungewollt dafür belohnen. Weil er aufgrund seiner Rasse ein höheres Aggressionspotenzial Artgenossen gegenüber hat. Ja, das ist alles richtig oder könnte es sein. Es kann viele Faktoren geben, aber selten den einen Grund.
Das allein ist es aber nicht. Faktoren haben in einem System Auswirkungen wie ein Stein, der ins Wasser fällt und seine Kreise zieht. Sie rufen Reaktionen hervor, die wiederum Aktionen darstellen, auf die reagiert wird. Wie in einer Spirale bedingt das Verhalten des einen das Verhalten des anderen. Am Ende wird deutlich, dass es keinen greifbaren Anfang gibt und dass das Ergebnis übersummativ ist. Es ist durch die Kommunikation ein Mehr entstanden. So kann es ursprünglich für den Hund ein klares Motiv gegeben haben, sich aggressiv zu verhalten. Durch die menschliche Reaktion und Bewertung des Verhaltens kann daraus ein wirkliches Problem erwachsen. Der Mensch wird zum wichtigen Bestandteil für aggressives Verhalten und hält dadurch das Problem aufrecht, auch wenn das ursprüngliche Motiv des Hundes gar nicht mehr gegeben ist. Wie die Beschreibung von Ben und seiner Besitzerin zeigt, sind es neben verschiedenen Motiven für den Hund vor allem die Missverständnisse zwischen Mensch und Hund, die dafür sorgen, dass das Problem an Intensität zunimmt.
Ein Blick auf den Symptomträger Hund reicht nicht aus, um ein Problem zu erklären.
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Denn Hunde leben nicht in einem luftleeren Raum; sie sind Teil einer sozialen Gruppe, innerhalb derer sie interagieren. Sie etablieren individuelle Beziehungen und Rollen, von denen sie abhängig sind und über die sie ihr Selbstbild entwickeln. Sie kommen mit unterschiedlichen Charakteren, rassespezifischen Potenzialen und Talenten sowie der genetischen Grundausstattung eines Hundes zur Welt. In der Regel wachsen sie in unseren Breitengraden in Abhängigkeit vom Menschen auf. Ihre Umwelt ist so wandelbar und flexibel wie die unsere. Dafür sind sie mit einer großen
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