Duell auf offener Straße
Leinenaggression lässt sich nicht auf das unerwünschte Bellen reduzieren. Es geht dabei um so viel mehr – für die Hunde und für die Menschen.
Ein typischer Ablauf oder ein ganz normaler Abend?
Mit dem Wetterbericht kommt die Angst. Jeden Abend, wenn der Nachrichtenabspann läuft, kriecht sie ihr in den Nacken. Angst vor 800 Metern. Angst vor der Abendrunde. Wer könnte jetzt noch mit seinem Hund unterwegs sein? Diese Frage beschäftigt sie dreimal täglich. Wann hat das eigentlich angefangen, dieses Unbehagen vor dem Spaziergang? Bevor ihr die Antwort einfällt, schießt ihr ein Name durch den Kopf. Asco. Der müsste schon wieder zu Hause sein, wenn alles nach Plan läuft. Über Ascos Besitzer weiß sie im Grunde genommen nicht viel, außer wann er mit seinem nicht kastrierten Rüden nach draußen geht. Es gab eine Zeit, in der sie überlegt hatte, ihn zum Kaffee einzuladen, um ihn näher kennenzulernen. Das war die Zeit, als Ben klein war und die Furcht noch nicht ihre gemeinsamen Spaziergänge begleitet hat.
Nun diktiert ihr dieses Gefühl gerade das Gegenteil, nämlich jede Begegnung zu vermeiden. Sie steht im Flur und greift nach der Leine. Als hätte Ben auf dieses Geräusch gewartet, springt er aus seinem Korb, rast an ihr vorbei, direkt zur Wohnungstür. Er ist bereit für seinen großen Auftritt. Noch ein letztes Mal will er es heute allen zeigen: Er ist der König der Straße.
Sie fühlt sich ganz und gar nicht königlich und schaut ihn sorgenvoll an. Was Ben zeigt, würden Fachleute Appetenzverhalten nennen. Man könnte aber auch sagen, dass er bereits beim Griff zur Leine auf der Suche nach den anderen Hunden ist und große Erwartungen an den Spaziergang knüpft. Wäre er ein Mensch, so würde er sich voller Vorfreude seine Lederjacke anziehen und mit der Hand durch die Haare fahren, um vor dem Spiegel grinsend zur Probe zu posen. Sie allerdings ist kein Hundefachmensch, sieht in seiner Handlung ihr Problem und weiß, wenn er sich vorher so verhält, wird es draußen schwierig mit ihm. Fast reflexartig greift sie daraufhin zum Halti. Man weiß ja nie, was – oder besser wer – einem begegnet.
Zur Sicherheit nimmt sie seinen Lieblingsball mit und die Tüte mit der klein geschnittenen Fleischwurst. Vielleicht kann sie ihn diesmal damit ablenken.
Mit diesem Arsenal an „Wunderwaffen“ – in der Hundeerziehung auch Hilfsmittel genannt – geht sie über zu den nächsten Schritten. Wie ein altes einstudiertes Tanzlied verlangt sie von Ben ein „Sitz“. Wie immer reagiert er erst nach der dritten Ermahnung darauf. Wie immer erscheint er ihr dabei genervt. Doch sie bleibt eisern und leint ihn erst an, wenn er sich hingesetzt hat. Es ist ein gutes Gefühl, wenn er auf sie reagiert. Wenigstens in dieser Situation.
12
Verkehrte Welt? Sollte sie nicht fröhlich und entspannt mit ihrem Hund die schöne Abendluft genießen können? Schließlich hat sie sich einen Hund zugelegt, um mehr nach draußen zu kommen. Einen treuen Begleiter für ihre morgendliche Joggingrunde, ihr Ausgleich zum Bürojob. Sie wollte einen gesunden, sportlichen Hund, der sie fordert, und hat sich für einen Schäferhund-Mix entschieden. Agil ist er, aber ihre alte Joggingstrecke ist mit ihm nicht zu laufen. Dort gibt es zu viele andere Hunde. Dabei hat sie auf alles geachtet. Er bekommt das beste Futter, Kauknochen zur Zahnreinigung, hat hundetaugliches Spielzeug, ist tierärztlich bestens versorgt und sie geht mit ihm regelmäßig in eine Hundeschule. Doch kann sie trotz allem nicht einmal spazieren gehen, wann, wo und wie sie will.
Vielen geht es so. Jeden Tag wagen sich Leute mit einem unguten Gefühl und ihrem Hund an der Leine auf die Straße. Schon die Minuten vor dem Gassi-Gang sind voller Anspannung. Das bleibt vom Hund nicht unbemerkt. „Kommunikation verläuft immer kreisförmig“, hat Paul Watzlawick in seinen Gesetzen der Kommunikation formuliert. Das heißt, dass die Reaktion des einen Kommunikationspartners auch gleichzeitig eine Aktion ist, auf die der andere wiederum reagiert. Oder übersetzt: Ben rechnet die Uhrzeit mit der Stimmung seiner Besitzerin zusammen und weiß, dass es nun hinausgeht und jede Hundebegegnung ein Highlight wird. Durch ein schnelles und aufgeregtes Pendeln zwischen seinem Menschen und der Tür versucht er, den Start des Spaziergangs zu beschleunigen. Und es gelingt jedes Mal. Aus seiner Sicht.
Dass seine Besitzerin den Ball und das Futter eingesteckt hat, bleibt für ihn
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