Duell auf offener Straße
nicht unbemerkt. Ihr gibt es Sicherheit, ihm zwei Gründe mehr, um mit durchgedrückten Beinen und erhobener Rute aus der Tür zu stürmen. Schließlich hat er viel zu tun und zu verteidigen. Frei nach dem Motto: „Mein Mensch, mein Futter, meine Beute“, kann für ihn der Reviergang beginnen. Er startet die Abendrunde mit stolz geschwellter Brust, sie mit angestrengter Miene. Er zieht in eine Demonstration seiner eigenen Macht, sie zieht in den Krieg.
Mensch und Hund haben den Gegner im Visier.
Das Kurznehmen ist eine Sicherheitsvorkehrung des Menschen und gleichermaßen ein aussagekräftiges Signal für den Hund.
Eher unfreiwillig wird der Mensch in den Konflikt einbezogen und zum wichtigen Bestandteil des gesamten Ablaufs.
Auf gleicher Höhe kommt es zur Eskalation.
Gedanken an Hundetrainingsinhalte treten jetzt in den Hintergrund. Die volle Konzentration liegt auf dem Halten des Hundes.
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Während sie hektisch die Straße nach potenziell vorhandenen Hunden und Haltern absucht, bringt sich Ben durch das Überpinkeln anderer Markierungen olfaktorisch ein. Für ihn eine geniale Arbeitsteilung. Sie arbeitet visuell und wird ihm sofort körpersprachlich signalisieren, ob ihnen ein anderer Hund entgegenkommt. Er dagegen kann sich auf die geruchliche Suche begeben. Jeder Baum, jede Laterne und jede Ecke informieren Ben über die aktuelle Situation in seiner Straße. Sie waren alle hier. Sam, Fee und Quentin. Und Henry. Dieser vorwitzige Dackel kann froh sein, dass er vor einigen Monaten kastriert wurde. Und Lola! Sie ist seit einer Woche läufig. Zwar hat Ben sie seither nicht mehr gesehen, aber er riecht sie jeden Tag. Sein Testosteronspiegel sagt ihm, dass er der Richtige für sie wäre. Es kann nur einen geben.
Und da biegt er plötzlich um die Ecke. Asco! „Wieso ist der denn um diese Zeit unterwegs?“, fragt sie sich noch verzweifelt und checkt innerhalb von Sekunden die Fluchtmöglichkeiten ab. Es ist aussichtslos. Es gibt keine Möglichkeit, noch einen anderen Weg einzuschlagen und es dabei wie eine Zufälligkeit aussehen zu lassen. Wenn sie jetzt umdreht, verliert sie vor Ascos Besitzer ihr Gesicht.
Sie versucht, sich selbst unter Kontrolle zu bringen, aber ihr Puls steigt. Sie nimmt die Leine kurz und steigt mit einem scharfen „Fuß“ in den zu erwartenden Konflikt ein. Und Ben kennt sich aus. „Leine kurz“ heißt: Es kommt ein anderer Hund. In Verbindung mit dem Kommando „Fuß“ heißt es: Er ist in meiner Kampfklasse. Sie hatte gehofft, dass Ben an ihre Seite kommt, er schiebt sich jedoch direkt nach vorne in die Leine.
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Er ist in Bestform. Angespannt und mit einem festen Blick marschiert er geradewegs auf Asco zu. Ihr Blick geht flackernd zwischen Ben und Asco hin und her, die Atem- und Pulsfrequenz steigen weiter an, ihre Hände werden feucht. Wie man es von einem richtigen Typen erwarten darf, spielt Ben den Retter und signalisiert ihr: „Das übernehme ich.“
In ihrem Ohr noch immer wie ein Echo die Stimme ihrer Hundetrainerin: „Entspannen Sie sich, sonst verstärken Sie sein Verhalten.“ Aber wie soll sie sich jetzt noch entspannen? Und wo ist eigentlich diese Hundetrainerin, wenn man sie braucht? Sie weiß, dass sie das jetzt nicht tun sollte, aber es lässt sich nicht mehr aufhalten: „Ist doch gut, Ben, das ist doch nur Asco.“ Die Information, dass es sich bei dem anderen Hund um Asco handelt, hätte sie sich natürlich sparen können, Ben wusste das schon. Allerdings wird er wahrnehmen, dass seine Besitzerin dem Ganzen die gleiche Bedeutung beimisst wie er selbst.
„Sie müssen wichtiger sein als der andere Hund. Konzentrieren Sie ihn auf sich.“ Die Worte hämmern in ihrem Kopf. Sie fummelt nervös an ihrer Tasche herum. Für das Halti ist es jetzt zu spät, also versucht sie, den Ball mit ins Spiel zu bringen. „Schau mal, Ben, dein Ball!“ Er scheint beunruhigt. Wie kann sie jetzt, wo der andere Rüde kommt, mit unserer Beute herumwedeln? Er versucht, sich trotz Ball zu konzentrieren und beginnt Asco zu fixieren. Sie weiß, was das heißt. Mit dem Tunnelblick eines Skispringers springt er kräftig in die Leine.
Gerade noch rechtzeitig kann sie mit beiden Händen die Lederleine festhalten. Ben ist in seinem Element. Seine Besitzerin bangt darum, ihren Stand zu halten, und blickt wie erstarrt auf ihren Hund, dessen Bellen ihr unnatürlich laut vorkommt in dieser Abendstille. Sie versucht, mit einem „Sitz“ zu kontern, schickt ein
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