Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Boden.
»Vielleicht ist das ein alter Kamin«, überlegte Elizabeth.
»Wenn es ein Kamin ist, warum gibt es dann eine Treppe?«, fragte ich, denn aus den Ziegelwänden ragten kleine Holzstufen hervor.
»Ich frage mich, ob Vater davon weiß«, sagte Konrad. »Wir sollten es ihm erzählen.«
»Zuerst gehen wir mal runter«, sagte ich. »Sehen nach, wohin das führt.«
Wir blickten auf die Stufen, die aus dünnen Brettern bestanden.
»Vielleicht sind die vermodert«, sagte mein Bruder vernünftig.
»Dann gib mir die Kerze«, forderte ich ungeduldig. »Ich teste das beim Gehen.«
»Das ist gefährlich, Victor, besonders für Elizabeth mit ihren Röcken und den hohen Absätzen …«
Mit einer schnellen Bewegung war Elizabeth aus beiden Schuhen geschlüpft. Ich sah im Kerzenschein, wie ihre Augen begierig blitzten.
»So vermodert sehen die gar nicht aus«, meinte sie.
»Also gut«, sagte Konrad. »Aber bleib dicht an der Wand und tritt vorsichtig auf!«
Ich wäre so gerne als Erster gegangen, aber Konrad hatte die Kerze und machte den Anfang. Dann kam Elizabeth mit angehobenen Röcken. Ich zuletzt. Den Blick hatte ich auf die Stufen gerichtet, und mit der Hand streifte ich über die Wand, sowohl zur Beruhigung als auch fürs Gleichgewicht. Drei … vier … fünf Schritte … Dann nach einer Wende um neunzig Grad an der nächsten Wand entlang. Ich hielt an und blickte zurück, nach oben zu dem schmalen Lichtstreifen, der aus der Tür zur Bibliothek drang. Ich war froh, dass wir sie halb offen gelassen hatten.
Von unten stieg ein übler, muffiger Gestank auf wie von verfaulenden Wasserpflanzen.
Nach ein paar weiteren Schritten rief Konrad: »Hier ist eine Tür!«
Im Schein der Kerze sah ich in der Wand des Schachts eine große Holztür, ihre raue Oberfläche war von Kratzern zerfurcht. Wo der Türgriff hätte sein sollen, war ein Loch. Und darüber waren die Worte gemalt:
TRITT NUR NACH DER BEGRÜSSUNG EINES FREUNDES EIN
»Nicht sehr freundlich, dass es hier keinen Türgriff gibt«, bemerkte Elizabeth.
Konrad stieß ein paarmal kräftig gegen die Tür. »Abgeschlossen«, sagte er.
Die Stufen führten weiter nach unten, und mein Bruder streckte die Hand mit dem Leuchter aus und versuchte, die Tiefe auszuleuchten.
Ich kniff die Augen etwas zusammen. »Ich glaube, ich sehe den Boden!«
Es war tatsächlich der Boden, den wir dann mit weiteren zwanzig Schritten erreichten. In der Mitte des feuchten Lehmbodens befand sich ein Brunnen.
Wir gingen um ihn herum und blickten hinein. Ich konnte nicht sagen, ob das, was ich sah, öliges Wasser oder einfach nur Dunkelheit war.
»Warum haben die wohl hier drin einen Brunnen versteckt?«, fragte Elizabeth.
»Vielleicht ist es ein Belagerungsbrunnen«, sagte ich und war richtig stolz auf mich.
Konrad hob die Augenbrauen. »Ein Belagerungsbrunnen?«
»Für den Fall, dass das Schloss belagert würde und man von allen anderen Wasservorräten abgeschnitten wäre.«
»Das klingt sehr plausibel«, sagte Elizabeth. »Und vielleicht führt die Tür, an der wir vorbeigekommen sind, zu einem Fluchttunnel!«
»Ist das … ein Knochen?«, fragte Konrad und hielt die Kerze dichter an den Boden.
Ich merkte, dass ich leicht zitterte. Wir beugten uns alle drei hinunter, um besser zu sehen. Der Gegenstand steckte halb in der Erde, sehr klein, weiß, schlank und mit einem wulstigen Ende.
»Vielleicht ein Fingerknochen«, sagte ich.
»Tier oder Mensch?«, fragte Elizabeth.
»Wir könnten ihn ausgraben«, meinte Konrad.
»Vielleicht später«, sagte Elizabeth. »Es ist sicher nur ein Stück von irgendeinem anderen Frankenstein-Verwandten.«
Wir kicherten und das Geräusch hallte unangenehm wider.
»Gehen wir wieder nach oben?«, fragte Konrad.
Ich überlegte, ob er vielleicht Angst hatte. Ich hatte Angst, wollte das aber nicht zeigen. »Die Tür da …«, sagte ich. »Ich frag mich, wo die wohl hinführt.«
»Vielleicht ist sie auf der anderen Seite einfach nur zugemauert«, bemerkte Konrad.
»Gib mir mal«, sagte ich, nahm Konrad den Kerzenhalter aus der Hand und ging auf den abgesplitterten Stufen wieder nach oben. Vor der Tür blieb ich stehen, hielt die Kerzenflamme an das kleine Loch, konnte aber immer noch nicht sehen, was auf der anderen Seite war. Ich übergab den Leuchter Elizabeth und streckte meine Hand nach dem dunklen Loch aus.
»Was hast du vor, Victor?«, fragte Konrad.
»Vielleicht ist innen ein Riegel«, sagte ich und lachte leise, um meine Nervosität
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