Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
erkennen, was an seinem unteren Ende lag, aber dafür spürte er es um so deutlicher. Vlad war dort unten. Und er hielt sich nicht einfach nur dort unten auf, er lauerte auf ihn. Der Schacht war eine Falle. Jan war nicht in der Lage, die Gedanken des anderen zu lesen, aber er spürte ganz deutlich seine Absichten. Vlad wußte, daß er kam, und er wartete irgendwo dort unten auf ihn, um ihn zu töten. Und Jan spürte noch mehr: Katrin war dort unten.
Diese Erkenntnis brachte die Entscheidung. Er war trotz allem in einer furchtbaren Zwangslage: Vlads Kraft wuchs mit jeder Sekunde, die er verstreichen ließ. Und er mußte davon ausgehen, daß er Katrin aus purer Bosheit tötete, einfach nur so, weil ihm danach war.
Jan schwang sich in den Schacht, kletterte rasch drei der eisernen Tritte hinunter und ließ dann einfach los.
Er fiel wie ein Stein. Schon nach einer halben Sekunde war ihm klar, daß er sich verschätzt hatte. Der Schacht war weitaus tiefer, als er geglaubt hatte. Vlad schien seine Gedanken sehr wohl gelesen zu haben, er wartete am unteren Ende des Schachtes auf ihn, hatte sich so gegen die Wand gelehnt, daß er sein verletztes Bein möglichst entlastete, und hielt ein Stück rostiges, rasiermesserscharfes Eisen in beiden Händen.
Jan spürte die Gefahr im letzten Moment und warf sichherum. Vlads improvisiertes Schwert erwischte ihn trotzdem, aber es zerteilte ihn nicht in zwei Hälften, wie der Vampir offenbar geplant hatte, sondern fügte ihm nur eine tiefe, heftig blutende Wunde zu, die vom Oberschenkel bis unter seine Achselhöhle reichte. Er fiel, spürte, wie ihm die enorme Wucht des Aufpralls das linke Bein brach und rollte weiter. Noch während er über den Boden rollte, spürte er, wie die Wunde an seiner Seite schon wieder aufhörte zu bluten und sich sein gebrochenes Bein von selbst wieder richtete. Es war kein Silber gewesen, das ihn verletzt hatte.
Vlad wußte das so gut wie er, denn er setzte ihm auf der Stelle nach und hackte mit seiner Eisenstange nach Jans Bein. Er verfehlte ihn. Funken stoben aus dem Stein neben Jans Oberschenkel, und Vlads verletztes Bein gab unter der heftigen Bewegung abermals nach, und er fiel. Jan trat ihm ins Gesicht, registrierte voll grimmiger Befriedigung, daß Vlad nicht nur ein paar Zähne verlor, sondern auch seine improvisierte Waffe fallen ließ und sich krümmte. Jan kroch hastig ein Stück von dem Vampir fort.
Das einzig Vernünftige, was er in diesem Moment hätte tun können – das einzige , was Sinn machte –, wäre gewesen, sich unverzüglich auf Vlad zu stürzen und seine momentane Schwäche auszunutzen.
Statt dessen kroch er noch ein weiteres Stück zurück, richtete sich auf und sah sich wild um.
Katrin lag in einer gemauerten Nische, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Er konnte nicht sagen, ob sie noch lebte und nur ohne Bewußtsein war, aber sie lag da wie tot, und allein dieser Anblick ließ ihn Vlad für einen Moment vergessen.
Er sprang auf, rannte zu ihr hin und hob sie auf die Arme. Sie schien nichts zu wiegen. Aber sie lebte. Ihr Kopf rollte haltlos hin und her, und ihre Augenlider flatterten, öffneten sich aber dann doch nicht. Sie stöhnte leise. Ein Speichelfaden liefaus ihrem Mundwinkel und zeichnete eine glitzernde Spur über ihre Wange und ihren Hals. Sie lebte, aber er konnte spüren, wie das Leben aus ihr wich. Was immer Vlad ihr angetan hatte, er hatte sie bereits getötet.
Jan hatte etwas Neues gelernt. Nicht bewußt – er tat es instinktiv. Behutsam ließ er Katrin zu Boden sinken, öffnete ihre Bluse und legte die flache Hand auf ihr Herz … und spendete ihr Leben.
Etwas floß durch seine Hand in ihren Körper, vielleicht ein Teil seiner eigenen Lebenskraft, vielleicht etwas von der, die er Vlad gestohlen hatte, vielleicht auch etwas vollkommen anderes, was er in diesem Moment noch nicht kannte – aber was immer es war, es tat seinen Dienst. Er konnte spüren, wie der erlöschende Lebensfunke in Katrin wieder zu pulsieren begann und wie aus dem Funken ein winziges Flämmchen und schließlich ein helles Feuer wurde.
Vorsichtig zog er die Hand zurück. Katrins Haut war heiß. Seine Finger hatten deutlich sichtbare, rote Abdrücke auf ihrer Brust hinterlassen. Sie zitterte am ganzem Leib, und ihr Atem ging so schnell, daß sie fast hyperventilierte.
Dann öffnete sie die Augen und sah ihn an.
Im allerersten Moment war ihr Blick trüb; so verschleiert wie der eines Menschen, der brutal aus dem tiefsten Schlaf
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