Dunkle Verlockung (German Edition)
achtzig Jahren über dieses Gebiet. Nimra war schon eine Machtfigur gewesen, als ihre Altersgenossen noch an den Höfen ihrer Dienstherren gearbeitet hatten. Das war kaum überraschend, denn man sagte der Engelsfrau einen eisernen Willen und erbarmungslose Grausamkeit nach.
Noel war kein Dummkopf. Deshalb wusste er, dass seine »Beförderung« in Wahrheit ein unausgesprochenes, scharfes Urteil war: Er war nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war – und er wurde nicht mehr gebraucht. Er ballte die Hand zur Faust. Das aufgerissene, blutverschmierte Fleisch, die gebrochenen Knochen, das Glas, das die Diener eines rasenden Engels in seine Wunden getrieben hatten, von all dem war dank seines Vampirismus nichts mehr übrig. Geblieben waren nur die Albträume … und die seelischen Verletzungen.
Wenn Noel in den Spiegel blickte, sah er darin nicht mehr denselben Mann wie früher. Er sah vielmehr ein Opfer, jemanden, den man zu Brei geschlagen und dann achtlos seinem Schicksal überlassen hatte. Sie hatten ihm die Augen genommen, die Beine zerschmettert und so lange die Finger zerquetscht, bis seine Knochen in kleine Stücke zersplittert waren. Der Genesungsprozess war grausam gewesen und hatte ihn jeden Funken seiner Willenskraft gekostet. Doch wenn diese beleidigende Anstellung nun seine Bestimmung sein sollte, wäre es ihm lieber gewesen, er hätte nicht überlebt. Vor dem Angriff war er in der engeren Wahl für eine Stellung im Erzengelturm gewesen, von dem aus Raphael über Nordamerika herrschte. Jetzt war er ein zweitrangiger Wachmann an einem der finstersten Höfe.
Und im Zentrum dieses Hofes stand Nimra.
Sie war nur einen Meter fünfzig groß und hatte einen ausgesprochen zierlichen Körperbau. Doch der Engel war trotzdem keine knabenhaft wirkende Erscheinung, im Gegenteil. Nimras Kurven hatten vermutlich schon viele Männer ins Verderben getrieben. Ihre Haut schimmerte wie geschmolzene Sahnebonbons und ihre wallenden Locken fielen blauschwarz glänzend auf ihr Gewand herab, das in der Farbe von dunkler Jade leuchtete. Die Verspieltheit, mit der die fülligen Locken über ihren Rücken flossen, passte weder zu ihrem Ruf noch zu dem kalten Herzen, das in Nimras sündigem, verführerischem Busen schlug – einem Busen, der beinahe zu üppig für ihren Körperbau war.
Als hätte sie seinen prüfenden Blick gespürt, sah sie Noel scharf an. Ihre Augen – gefärbt wie kräftiger gelber Topas, durchzogen von schimmernden Bernsteinfunken – blickten streng und bohrend. Während Nimra ihn so mit ihren Augen fixierte, durchquerte sie den großen Raum, den sie für Audienzen nutzte. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln ihrer Flügel und das zarte Geräusch, mit dem ihr Gewand über ihre Haut strich.
Sie kleidete sich wie ein Engel aus früheren Tagen; die ruhige Eleganz ihrer Gewänder erinnerte ihn an das antike Griechenland. Er war damals noch nicht auf der Welt gewesen, hatte aber die Gemälde gesehen, die in der Zufluchtsstätte, der Engelsfestung, aufbewahrt wurden. Außer ihr hatte er schon andere Engel gesehen, die sich weiterhin in einem solchen Stil kleideten, da sie ihn als deutlich majestätischer empfanden als die Kleidung der Neuzeit. Doch keiner von ihnen war mit Nimra zu vergleichen: Mit ihrem Gewand, das an den Schultern von schlichten Goldspangen und an der Taille von einem schmalen geflochtenen Band in der gleichen Farbe zusammengehalten wurde, hätte man Nimra für eine antike Göttin halten können.
Schön.
Mächtig.
Tödlich.
»Noel«, sagte sie, und im Klang seines Namens schwang ein Akzent mit, der zu dieser Region gehörte, in dem aber zugleich noch andere Orte und Zeiten nachhallten. »Du wirst mich begleiten.« Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Zimmer. Ihre Flügel hatten einen satten, tiefen Braunton, durchzogen von glitzernden Fasern, in denen sich die Farbe ihrer Augen wiederholte. Diese Flügel, die sich über Nimras Schultern wölbten und zart über den glänzenden Holzfußboden strichen, nahmen sein ganzes Blickfeld ein, als er sich umwandte, um ihr zu folgen.
Der erlesene Farbton ihrer Schwingen passte nicht recht zu der kalten Hinterhältigkeit dieses finsteren Hofes, sondern eher zu der beständigen Ruhe von Bäumen und der Erde. Zumindest in diesem Punkt trog der Schein nicht. Nimras Zuhause war ganz anders, als er erwartet hatte: ein ausladendes, elegantes altes Anwesen mit himmelhohen Decken auf einem ausgedehnten Grundstück, das etwa eine Stunde außerhalb
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