Dunkle Verlockung (German Edition)
»Wie viele Diener muss ich in Betracht ziehen?«
»Drei«, teilte ihm Nimra mit. »Violet, Sammi und Richard.«
Er prägte sich die Namen ein und fragte dann: »Was wirst du heute tun?«
Offenbar noch immer verärgert, weil er gewagt hatte, ihr zu widersprechen, warf sie ihm einen Blick voller majestätischer Arroganz zu. »Auch das ist nichts, was du wissen müsstest.«
Er war erst zweihundertzwanzig Jahre alt, doch diese Zeit hatte er in den Reihen der Männer eines Erzengels verbracht, und die letzten hundert Jahre in der Wache gedient, die direkt den Sieben unterstellt war. Er besaß seine eigene Arroganz. »Das ist es vielleicht nicht«, sagte er und trat so nah an sie heran, dass sie den Kopf ein Stück zurückbeugen musste, um ihm in die Augen zu sehen – wissend, dass sie das nicht begrüßen würde, »ich wollte nur höflich und zivilisiert sein und Konversation betreiben.«
Nimra verengte die Augen ein winziges Stück. »Ich glaube, du warst noch nie höflich und zivilisiert. Hör auf, es zu versuchen – es ist lächerlich.«
Diese Aussage entlockte ihm ein überraschtes Lachen. Es klang rau und ungewohnt, seine Brustmuskeln dehnten sich, wie sie es lange nicht mehr getan hatten.
Mit Bestürzung stellte Nimra fest, welche Wirkung Noels Lachen auf sie hatte, das sein Gesicht regelrecht verwandelte und das Blau seiner Augen aufhellte. Es war ein flüchtiger Eindruck der Person, die er vor den Ereignissen in der Zufluchtsstätte gewesen sein mochte – ein Mann, in dessen Augen ein Hauch von Gefahr lag und der über sich selbst lachen konnte. Als er ihr nun einladend den Arm hinhielt, schob sie die Hand in seine Armbeuge.
Durch den dünnen Stoff ihrer bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Bluse hindurch spürte sie seine Körperwärme auf ihrer Haut, und beim Gehen fühlte sie seine geschmeidigen Muskeln unter ihren Fingern. Für einen Augenblick vergaß sie, dass sie ein Engel war, dass sie vierhundert Jahre älter war als er und dass jemand sie tot sehen wollte. Für diesen Augenblick war sie nur noch eine Frau auf einem Spaziergang mit einem gut aussehenden Mann, der sie mit all seinen Ecken und Kanten zu faszinieren begann.
Drei Tage später hatte Noel einen guten Eindruck von den Abläufen am Hof gewonnen. Nimra stand unbestreitbar im Mittelpunkt, doch sie war keine Primadonna. Das Wort »Hof« war eigentlich keine zutreffende Bezeichnung. Es war kein extravaganter Ort, an dem jeden Abend offizielle Diners abgehalten wurden und imposant herausgeputzte Höflinge es als ihre wichtigste Aufgabe ansahen, hübsch auszusehen und sich einzuschmeicheln.
Nimras Hof war ein hochfunktionales System, und die ausgeprägten Fähigkeiten der Männer und Frauen dort waren offenkundig. Christian – der keine Anstalten machte, in Noels Gegenwart aufzutauen – regelte die Angelegenheiten des Tagesgeschäftes. Dazu gehörte auch die Verwaltung der Investitionen, die den Wohlstand des Hofes sicherten. Bei bestimmten Aufgaben wurde er von Fen unterstützt, wenngleich die Beziehung der beiden auf Noel eher wie die zwischen einem Mentor und seinem Schützling wirkte. Fen reichte den Stab an Christian weiter, der zwar älter an Jahren war, jedoch weniger Erfahrung hatte.
Asirani war Nimras Privatsekretärin. »Die Mehrzahl der Einladungen lehnt sie ab«, erklärte ihm die Vampirin am zweiten Tag frustriert, »was meinen Job zu einer ziemlichen Herausforderung macht.« Dennoch kamen die Einladungen – von anderen Engeln, hochrangigen Vampiren und Menschen, die begierig darauf waren, einen Kontakt zum herrschenden Engel herzustellen – weiterhin in Strömen, und so blieb Asirani beschäftigt.
Exeter, der Gelehrte, wurde seinem Ruf gerecht. Der exzentrisch wirkende Mann, dem die staubig grauen Haarbüschel in alle Richtungen vom Kopf abstanden und dessen verblüffend gelbe Flügel von kupferfarbenen Fäden durchzogen waren, schien ziemlich abgehoben zu sein. Auf den zweiten Blick stellte sich jedoch heraus, dass er Nimra mit Ratschlägen und Informationen in Sachen Engelspolitik versorgte. Fen hingegen war stets auf dem Laufenden, was die vampirische und menschliche Bevölkerung anbelangte.
Nur Amariyah schien außer der Fürsorge für ihren Vater keine rechte Aufgabe zu haben. »Bleibst du wegen Fen an diesem Hof?«, fragte er sie an diesem Abend nach einem der seltenen offiziellen Diners. Sie standen im silbernen Schimmer des Halbmondes auf dem Balkon, in der feuchten Luft waren die wirren Geräusche von
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