Dunkle Verlockung (German Edition)
für ihre Sicherheit zu sorgen.
Dieser Gedanke brachte ihn wieder zu Asirani.
Als sie von Nimra sprach, hatten unverhohlene Fürsorge und deutliche Anteilnahme aus ihrer Stimme geklungen. Auch Enttäuschung und eine Spur von Wut waren herauszuhören – beides gegen Christian gerichtet –, jedoch keine Feindseligkeit, die sie hätte empfinden müssen, wenn sie Nimra den Tod gewünscht hätte. Im Moment stand Noel noch ohne einen echten Verdächtigen da.
Christian war vielleicht manchmal ein Mistkerl, doch wenn es um Nimras Interessen ging, schluckte er seine Feindseligkeit meist hinunter und arbeitete mit Noel zusammen. Exeter hatte Jahrhunderte an ihrer Seite verbracht, Fen viele Jahrzehnte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass einer dieser Männer einen so tiefen Hass gegen Nimra entwickelt haben könnte, ohne dass ihr eine Veränderung aufgefallen wäre. Was die beiden älteren Diener anging, so hatte sich zudem herausgestellt, dass sie Nimra still ergeben waren.
Stirnrunzelnd trat er hinaus in den anbrechenden Tag, um Nimra zu suchen – denn es gab eine Sache, die sie noch nicht bedacht hatten, und genau darin konnte die Antwort liegen. Er rechnete fast damit, sie an Mimosas Grab zu finden, doch auf halbem Weg zu dem verwilderten Teil des Gartens, in dem Nimras Haustier begraben lag, ließ ihn irgendetwas aufsehen … und was er erblickte, nahm ihm den Atem.
Vor dem schiefergrauen, vom Gold, Orange und Rosa des Sonnenaufgangs überzogenen Himmel sah Nimra überwältigend aus. Feuriges Licht ließ ihre Flügel von hinten erstrahlen, und ihr Körper offenbarte seine geschmeidige Perfektion in einem mehrschichtigen, bronzefarbenen Gewand, das sich im Wind zart an ihre Haut schmiegte. An den glatten Stamm einer jungen Magnolie gelehnt, betrachtete Noel den Engel und genoss seine Schönheit. Ihr Anblick, wie sie die Flügel zu ihrer vollen Spannweite ausbreitete und der Wind ihr das Haar aus dem Gesicht peitschte, während sie auf den Luftströmen dahinglitt, erinnerte ihn an die Zufluchtsstätte, an jene ferne Stadt, die so lange sein Zuhause gewesen war.
In diese Engelsfestung war er versetzt worden, als er nach dem Ablauf seines hundertjährigen Vertrags beschlossen hatte, in Raphaels Diensten zu bleiben. Als Teil der Wache hatte er dort mitgeholfen, die Besitztümer des Erzengels zu verwalten und die verwundbaren Engel zu beschützen, wegen denen es diese verborgene Stadt in den Bergen überhaupt gab. Schon bald jedoch war er in eine mobile Truppe eingezogen worden, die Aufgaben auf der ganzen Welt erledigte.
Für einen Burschen, der aus der ungezähmten Weite der Moore stammte, war New York, wo Raphaels Turm stand, ein einziges Wunder. Die himmelhohen Gebäude und die vor Menschen nur so w immelnden Straßen hatten ihn sofort überwältigt und berauscht. Kinshasa hatte den Abenteurer in ihm angesprochen, jenen Teil seiner Persönlichkeit, der ihn überhaupt erst dazu gebracht hatte, das Wagnis auf sich zu nehmen, ein Vampir zu werden. Paris, Beirut, Liechtenstein, Belize – all diese Orte hatten ihn auf unterschiedliche Weise angesprochen, aber keiner von ihnen hatte eine so weiche, sinnliche Melodie in seinem Herzen gespielt, wie sie Nimras Gebiet in ihm hervorlockte.
Mit atemloser Leichtigkeit durchschnitten die zarten Bewegungen juwelenbestäubter Flügel die Luft vor dem wie gemalt aussehenden Himmel. Noels Herz zog sich zusammen, und er fragte sich, ob sie wusste, dass er ihr zusah, während sie über ihn hinwegflog. Einen Sekundenbruchteil später erblickte er ein weiteres Flügelpaar, und seine Laune verfinsterte sich.
Christian tauchte unter Nimra hindurch und umkreiste sie, als wollte er sie zum Tanz auffordern. Seine Spannweite war größer als ihre, sein Flugstil weniger anmutig, dafür aggressiver. Nimra ging nicht auf seine Aufforderung ein, doch sie setzte auch nicht zur Landung an. Stattdessen flogen die beiden Engel vor Noels Augen über den gleichen, weiten Himmel, gelegentlich kreuzten sich ihre Wege, und manchmal schienen sie ihre Wendungen und Sturzflüge so abzupassen, dass sie einander nur um Haaresbreite verfehlten.
Wut strömte durch seine Adern.
Keine kalte, harte Wut, wie sie es so lange Zeit gewesen war, sondern eine heiße Flamme aus roher, männlicher Eifersucht. Er besaß keine Flügel und würde Nimra nie auf dieses Spielfeld folgen können. Mit zusammengebissenen Zähnen verschränkte er die Arme und sah den beiden weiter zu. Vielleicht konnte er ihr nicht folgen,
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