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Das Geheimnis von Summerstone - Die furchtlosen Vier

Titel: Das Geheimnis von Summerstone - Die furchtlosen Vier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gitty Daneshvari
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    Jeder hat vor etwas Angst: Mottephobie ist die Angst vor Motten
    E ine Glocke ist nicht einfach nur eine Glocke. Zwar ist sie unbestreitbar aus Metall gefertigt und in erster Linie zum Läuten da, aber das ist noch längst nicht alles. Sie birgt auch den Geschmack von gegrilltem Fleisch, das Gefühl sonnengebräunter Haut nach tagelangem Draußenspielen und den Chlorgeruch frisch gereinigter Schwimmbäder in sich. Sie verheißt Fußballspiele, Übernachtungen bei Freunden und Videospiel-Wettkämpfe, und all das ohne Unterbrechung durch Hausaufgaben. Kurz und knapp: Die Glocke ist das Tor zum Sommer.
    In der Brunswick-Schule für Mädchen im piekfeinen Londoner Stadtteil Kensington wartete eine Gruppe von zwanzig Schülerinnen in Uniform auf das Zeichen, dass endlich das Schuljahr zu Ende war. Mit Verzweiflung in den Augen starrten die Mädchen auf
die Uhr und sehnten das Läuten herbei. Viele kleine dunkelblaue Schuhe schlugen voller Ungeduld gegen die abgenutzten Stühle und übertönten die Stimme der Lehrerin.
    Die Lehrerin zu missachten war ja nun keine neue Masche, aber an diesem besonderen Tag machten die Mädchen das so gekonnt wie die Garde vor dem Buckingham-Palast, jene Männer mit den flauschigen Bärenfellmützen, die unter keinen Umständen zu einer Reaktion zu bewegen sind. Immer frustrierter fragten sich die Mädchen, ob die Glocke vielleicht in Urlaub gegangen war. Angeblich hatte sie das schon öfter getan, vor allem während Prüfungen, Referaten und anderen lästigen schulischen Pflichten.
    Unfug spukte neunzehn der zwanzig Mädchen im Kopf herum, aber in der letzten Reihe saß ein Mädchen, das seine ganze Willenskraft darauf richtete, dass die Glocke nicht läuten möge. Madeleine Masterson mit den rabenschwarzen Haaren hatte ihren Platz gezielt so gewählt, dass sie weder die Uhr noch die Glocke sehen konnte. Ihre blauen Augen huschten nervös hin und her, und sie murmelte unablässig zwei einfache Worte vor sich hin: »Läute nicht.«
    Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben erfüllte sie der Beginn der Sommerferien mit nichts als Zittern und Zagen. Normalerweise genoss Madeleine die vielen ruhigen Sommernachmittage, die sie mit einem Buch, einem Puzzle oder einem Laptop mit Internetzugang
im Wohnzimmer verbrachte. Madeleine war stolz darauf, dass sie sich überdurchschnittlich gut in der Weltpolitik auskannte. Die meisten Schülerinnen wussten nicht, wie der norwegische Premierminister hieß, nämlich Jens Stoltenberg, aber Madeleine wohl. Sie wusste auch die Namen des grönländischen Premierministers, Hans Enoksen, des isländischen Premiers, Geir Haarde, des mauretanischen Präsidenten, Sidi Ould Cheikh Abdallahi, des Präsidenten von Benin, Yayi Boni, und so weiter und konnte sie obendrein auch noch aussprechen. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass alle einhundertzweiundneunzig Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ihr Interesse verdienten.
    Madeleine hätte den Sommer liebend gerne in der Brunswick-Schule verbracht, hätte sie damit dem Plan ihrer Eltern für sie entrinnen können. Sie würde ihren Durst einfach am Trinkbrunnen löschen und ihre Nahrung aus dem Automaten holen. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie genügend Kleingeld hatte. Die Idee nahm allmählich Gestalt an: Madeleine konnte die Bibliothek plündern, ganze Arme voll Bücher verschlingen, durch die Flure hüpfen und in der makellos sauberen Krankenstation schlafen. Ein Sommer in der Brunswick-Schule wäre rundum herrlich!
    Leider wurde Madeleines inständige Bitte, die Glocke möge nicht läuten, nicht erhört, wie sich um genau 15 Uhr zeigte. Ein durchdringender Ton schrillte durch die
weiten Räume der Brunswick-Schule und löste eine Massenflucht von Mädchen in schicken blau-weißen Uniformen aus. Ganz ähnlich wie die Stierhatz von Pamplona war dieses wilde Hinausstürmen aus der Schule eine gefährliche Sache. Zum Glück war das für die zwölfjährige Madeleine kein Thema. Schon seit Langem bestand sie darauf, zehn Minuten zu warten, bis die Kinder, Kindermädchen und Eltern vor der Schule das Feld geräumt hatten, ehe sie von ihrem Stuhl aufstand.
    An diesem speziellen Tag fühlte sich Madeleine derart von Furcht überwältigt, dass sie noch ganze fünfundvierzig Minuten im Klassenzimmer blieb, ehe sie hinausging. Um sich die Zeit zu vertreiben, brachte sie im Geiste die Namensliste der Delegierten bei den Vereinten Nationen in alphabetische Ordnung. Madeleine wusste, dass ihre Mutter und der Chauffeur

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