Dunkle Visionen
und sie versuchte, die Bedrohung mit Worten abzuwenden. Sie redete verzweifelt und schnell, mit beschwörender Stimme. Sie versuchte …
Madison blieb abrupt stehen, sie zitterte am ganzen Körper, ihr T-Shirt war mit kaltem Angstschweiß durchtränkt. Weil sie nicht einfach nur fühlte, was Lainie fühlte.
Sie
sah
es! Sie sah, was Lainie sah. Madison sah durch Lainies Augen.
Und Lainie sah ein Messer.
Ein langes, silbern aufblitzendes Messer, scheußlich scharf. Ein Fleischermesser. Madison hatte es schon früher gesehen, in der Küche. Es gehörte dorthin, in den Holzblock auf dem Tresen, in dem alle großen Küchenmesser steckten. Es hing wie ein Damoklesschwert in dem gedämpften Licht des Schlafzimmers in der Luft, direkt über Lainie.
Lainie schaute es an … und Madison sah durch ihre Augen.
In diesem Moment sauste das Messer nach unten.
Lainie schrie, aber Madison hörte den gellenden Schrei ihrer Mutter nicht, weil sie selbst schrie, während sie auf dem Absatz kehrtmachte und den Weg, den sie gekommen war, zurückrannte. Wobei sie fühlte. Das fühlte, was ihre Mutter fühlte.
Das Messer.
Wie es in sie eindrang. Wie es sie direkt unterhalb der Rippen durchbohrte.
Madison taumelte und wäre fast gefallen. Sie lehnte sich gegen die Wand, spürte den schrecklichen Schmerz, die Kälte, die Todesangst. Sie spürte den Tod kommen. Sie fasste sich an die Taille, und als sie nach unten schaute, sah sie Blut an ihren Händen …
Ihr war kalt, eisig kalt. Dunkelheit umfing sie. Sie tastete an der Wand nach Halt. Sie versuchte erneut zu schreien, doch noch ehe sie tief Luft geholt hatte, schluckte die Dunkelheit sie, und sie fiel in ein gähnendes schwarzes Loch.
„Madison. Madison!“
Sie erwachte beim drängenden Klang ihres Namens und öffnete die Augen. Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer, und Kyle war da, Rogers Sohn. Er war achtzehn, fünf Jahre und ein paar Monate älter als sie, aber er spielte sich in der Regel so auf, als wären es mindestens zwölf. Schwarze Haare, grüne Augen, Quarterback seines Footballteams. Die Hälfte der Zeit hasste sie ihn, besonders wenn er sie „Pimpf“ und „Dödel“ oder „Klein Doofi“ nannte. Doch wenn seine Freunde nicht da waren und er nicht alle Hände voll damit zu tun hatte, bei den Cheerleaders Eindruck zu schinden, konnte er manchmal sogar ganz nett sein. Und wenn sie wieder einmal felsenfest davon überzeugt war, das Produkt der kaputtesten Familie aller Zeiten zu sein, sagte er ihr, dass sie aufhören solle herumzujammern, und dass es eine Menge Leute gab, die Stief- und Halbbrüder und -schwestern hatten. Wenn er nicht ihr Stiefbruder gewesen wäre, hätte sie vielleicht sogar für ihn geschwärmt. Doch da er es nun einmal war, gestattete sie sich nicht, auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden.
Okay, dann hatte sie eben ein paar mehr Stiefgeschwister als die meisten anderen. Und okay, Lainie war nicht nur eine ungewöhnlich coole Mom, sie war Spitzenklasse. Genau betrachtet, war es gar nicht mal so schlecht, Lainie zur Mutter zu haben oder Roger zum Stiefvater. Ihr richtiger Dad, Jordan Adair, war ein berühmter Schriftsteller. Und wen interessierte es schon, wie viele Stiefmütter sie hatte?
Manchmal hasste Madison Kyle regelrecht, aber es gab auch andere Zeiten, und wenn ihr wieder mal stinklangweilig war, konnte er sie immerhin ziemlich gut zum Lachen bringen. Und manchmal,
manchmal
wurde ihr ganz warm, wenn sie ihn anschaute. Dann war er ihr plötzlich irgendwie ganz nah.
Doch jetzt glitzerten in seinen grünen Augen Tränen. „Madison?“
„Madison … bist du okay, Madison?“
Sie wandte leicht den Kopf. Roger war auch da. Roger, der seinen Tränen freien Lauf ließ.
„Roger, geh mal einen Schritt zur Seite, bitte.“
Es war ihr Vater, der sprach.
Der
Jordan Adair, ein überaus attraktiver Endvierziger mit langem silbergrauen Haar, einem silbergrauen Bart und dunklen, durchdringenden Augen. Er und ihre Mutter waren geschieden. Lainie war bereits bei ihrem dritten Ehemann angelangt; zuerst war sie mit einem Rockstar verheiratet gewesen, dann mit einem Schriftsteller und schließlich mit einem Maler. Jordan bevorzugte ebenfalls Künstlerinnen, allerdings schien er nicht ganz so wählerisch zu sein. Neben einer Opernsängerin, einer Balletttänzerin und Lainie war er auch mit einer Stripteasetänzerin verheiratet gewesen, und dann hatte er das Muster durchbrochen und eine Sextherapeutin geehelicht. Obwohl er Lainie
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