Dunkle Wolken über den Schären: Mittsommerträume (German Edition)
ein offenes Ohr gehabt hatte, stand nun allein da. Niemand schien sich dafür zu interessieren, wie es ihm ging. Nicht einmal seine eigenen Brüder.
Sei nicht unfair, sagte er zu sich selbst. Lars hat es immerhin versucht, aber du warst ja zu stolz, seine Hilfe anzunehmen. Doch mit Stolz hatte seine Ablehnung in Wahrheit nur sehr wenig zu tun. Da war etwas in den Blicken seines jüngeren Bruders – Zweifel? –, das er einfach nicht ertragen konnte. Und Gunnar war plötzlich überhaupt nicht mehr für ihn zu sprechen. Warum sagte ihm nicht endlich jemand, was er eigentlich verbrochen hatte?
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich in jener Nacht mit Sonja zu treffen. Doch sie hatte am Telefon so aufgelöst, so verzweifelt geklungen – hätte er das ignorieren sollen? Nein, er konnte nicht einfach wegschauen, wenn jemand Hilfe brauchte. Und Sonja war immerhin seine Schwägerin.
Er hatte sich mit ihr an einer anonymen Straßenecke in Stockholm verabredet. Es regnete heftig, und Sonja war völlig durchnässt, als sie zu ihm in den Wagen stieg. Beinah sofort brach sie in Tränen aus. Sie fuhren eine Weile schweigend umher. Magnus wollte ihr Zeit lassen, um sich ein wenig zu beruhigen. Und wie erwartet, fing sie schließlich ganz von allein an zu reden.
Als er erfuhr, was sie so bedrückte, überraschte es ihn nicht einmal sehr: Sonja hatte einen Geliebten. Natürlich dachte er zu allererst an Gunnar und daran, was diese Nachricht für seinen Bruder bedeuten würde. Auf der anderen Seite konnte er ein gewisses Verständnis für seine Schwägerin auch nicht leugnen.
Sie war mit einem Mann verheiratet, der seinen Beruf mehr zu lieben schien als alles andere auf der Welt – Sonja und seine kleine Tochter Ann-Sofie eingeschlossen. Magnus wusste, dass dieser Eindruck täuschte, aber darauf kam es nicht an. Es zählte allein, wie Sonja es empfand. Mit seinem Verhalten hatte Gunnar seine Frau, die sich verzweifelt nach Nähe und Geborgenheit sehnte, in die Arme eines anderen getrieben.
Doch Sonja gehörte nicht zu den Menschen, die mit dieser Art von Doppelleben zurechtkamen. Und sie liebte Gunnar noch immer, das war aus ihren Worten deutlich hervorgegangen. Einfach so weitermachen wie bisher kam für sie nicht infrage. Ihr Gewissen quälte sie jeden Tag mehr. Mit diesem anderen Mann, einem flüchtigen Bekannten aus Studienzeiten, verband sie nichts als Sex. Er gab ihr die Aufmerksamkeit, die ihr eigener Mann ihr so lange schuldig geblieben war. Echte Gefühle, so versicherte sie Magnus, hatte es in dieser Affäre, die inzwischen von ihrer Seite beendet worden war, zu keinem Zeitpunkt gegeben.
Magnus sah, in welcher Seelenqual seine Schwägerin sich befand, und riet ihr, sich mit Gunnar auszusprechen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Der Fahrer des Unfallwagens nahm Sonja jede Gelegenheit, ihre Ehe wieder in Ordnung zu bringen.
Nach ihrem Tod überlegte Magnus lange, was er tun sollte. Schließlich traf er die Entscheidung, über das, was er erfahren hatte, zu schweigen. Wer profitierte schon davon, wenn Gunnar erfuhr, wie unglücklich seine Frau in den letzten Monaten ihrer Ehe gewesen war? Für ihn war es auch so schon schwer genug. Plötzlich stand er ganz allein mit seiner kleinen Tochter da. Magnus sagte also nichts – sein zweiter Fehler?
Als er den kleinen Weg betrat, der zu Sonjas letzter Ruhestätte hinführte, erkannte er den Mann, der vor dem frischen Grab stand, sofort. Magnus’ Schritte verlangsamten sich, schließlich blieb er ganz stehen. Es war Gunnar – sein Bruder.
Seit jener Nacht im Krankenhaus hatten sie kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt, und bei der Beerdigung hatte Gunnar sich sogar geweigert, ihm auch nur die Hand zu reichen.
“Was willst du hier?”, fragte er jetzt, ohne auch nur aufzublicken. Seine Stimme klang kühl, feindselig. “Du hast hier nichts zu suchen. Verschwinde.”
Magnus atmete tief durch. “Ich verstehe ja, dass du wütend auf mich bist”, sagte er leise. “Wahrscheinlich gibst du mir die Schuld an dem, was geschehen ist, weil ich am Steuer saß. Aber bitte vergiss nicht, dass ich Sonja ebenfalls sehr gern hatte.” Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: “Und auch du bedeutest mir eine Menge, Bruder.”
Zum ersten Mal schaute Gunnar ihn direkt an, und Magnus erschrak über die Verbitterung, die sich in seinen Augen widerspiegelte.
“Bruder.”
Die Art, wie er dieses Wort aussprach, ließ es wie ein Schimpfwort klingen. “Ich wette darauf, dass
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