Dunkler Engel
PROLOG
Er saß im Vorraum und wartete darauf, beachtet zu werden. Er erinnerte sich an eine andere Situation, in der er wie jetzt gewartet hatte. Es war der 13. Oktober 1307. Er war ein lebendiger Mann, eingesperrt in einer Gefängniszelle, und wartete darauf, in die Kammer der Verteidigung geführt zu werden, um wegen seiner Taten Rede und Antwort zu stehen. Aber er war kein Krimineller. Er hatte keine Geldkatze gestohlen oder jemandem die Kehle durchgeschnitten. Sein Verbrechen bestand darin, dass er dem heiligen Orden der Tempelritter angehörte.
Der Name des Ortes, zu dem er gebracht wurde - Kammer der Verteidigung - ließ vermuten, er und die Inquisitoren würden sich zusammensetzen, um eine Art politischen Diskurs zu führen. Man würde ihm Fragen stellen, die er, als ein Ritter, wahrheitsgetreu beantworten musste. Weit gefehlt.
Drei Tage lang hatten sie ihn gefoltert, wobei sie alle nur denkbaren Methoden benutzten - und einige von ihnen waren abscheulich kreativ -, um ihn dazu zu bringen, Verbrechen zu gestehen, die er niemals begangen hatte. Sie peinigten ihn schier zu Tode und riefen ihn dann wieder ins Leben zurück. Manchmal gingen die Folterer zu weit, und ihre Gefangenen starben, ihre Herzen hörten unter den grausamen Qualen einfach auf zu schlagen. Derek war damals jung und stark, stolz und mutig, und er hatte die unglaubliche Folter lange ausgehalten, bis der Tod ihm schließlich die gesegnete Erleichterung verschaffte.
Derek war nicht wie so viele seiner Kameraden zusam-mengebrochen und hatte Verbrechen gestanden, von denen die Inquisitoren behaupteten, dass er sie begangen hatte. Er hatte keine dieser schrecklichen Dinge verbrochen. Sie wollten von ihm hören, dass der Orden nur daran interessiert war, Besitz anzuhäufen, und dass seine Ritter Verräter und Feiglinge, Diebe und Mörder waren.
Sünder, die Gott verleugneten und den Teufel verehrten. Derek hatte all diese Anklagepunkte widerlegt, obwohl sie ihm die Knochen gebrochen und die Haut verbrannt hatten. Er war ein treuer Ritter und glaubte, seine Kameraden wären ebenso treu. Bis zu seinem Tod war er einer Sache treu geblieben, an die er mit Leib und Seele glaubte. Er starb mit einem unerschütterlichen Glauben an Gott.
Nach dem Tod fing Derek an, Fragen zu stellen.
Als seine Seele in das zwielichtige Reich des Fegefeuers einging, wartete er darauf, als würdig beurteilt und in das Gesegnete Reich aufgenommen zu werden. Im Fegefeuer sah Derek die Wahrheit, so wie alle Männer und Frauen die Wahrheit sehen, wenn ihre Tage auf der Erde vollendet sind. Er sah die Wahrheit, und der junge Ritter, jetzt einer von Gottes Engeln, war schockiert und erzürnt.
Derek sah den Orden zu Staub zerfallen. Die Ritter wurden nicht durch Luzifer und seine dunklen Engel erledigt, die die ewigen Feinde der Templer waren, sondern durch die Machenschaften von korrupten und gerissenen Männern. Derek sah einige seiner Kameraden bei dem bloßen Gedanken an Folter zusammenbrechen und eifrig Taten gestehen, nur um ihre eigene Haut zu retten. Er sah die Tempelritter in Verderben und Ungnade enden, ihre noblen und heroischen Taten in Vergessenheit geraten.
Derek sah all das und konnte es nicht glauben. Er selbst hatte niemals solche schrecklichen Dinge getan. Er konnte nicht glauben, dass seine Kameraden dazu fähig waren. Darauf konnte es nur eine Antwort geben. Gott hatte die Tempelritter im Stich gelassen. Gott hatte die, die in Seinem Namen gestorben waren, die, die Seine Pilger verteidigten, vergessen.
Als er im Fegefeuer wartete, erhielt Derek eine andere Vorladung.
Er wurde vor die Erzengel gebracht, die seinen Einlass in das Gesegnete Himmelreich in Erwägung zogen. Er beobachtete andere Engel, die vor ihm gingen. Sie fielen vor Ehrfurcht auf die Knie, baten um Vergebung ihrer Sünden und wurden verständnisvoll im Reich Gottes willkommen geheißen. Die Erzengel umarmten sie und führten sie in eine wunderbare Ewigkeit.
Als Derek an der Reihe war, kniete er nicht nieder. Er gestand keine Sünden. Er stand groß und hochmütig, ganz der stolze Ritter, und trat den Engeln des Lichts erzürnt gegenüber.
»Ihr habt gesehen, welche Leiden ich erdulden musste«, sagte er ihnen. »Ich bin Gott treu geblieben. Warum hat Gott mich im Stich gelassen?«
»Kein Sterblicher kann den Willen Gottes ergründen«, antwortete der Erzengel ihm sanft. »Sei dir gewiss, dass Er dich liebt.«
»Liebe!«, schrie Derek. Wut kochte in ihm hoch. »Wo war Seine Liebe,
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