Dunkler Wahn
nicht mehr da waren, war es dennoch nicht Felix Thanner, den er antraf. Ein kurzer Blick in diese Augen verriet Jan, dass Jana Recht gehabt hatte. Ihr Stiefbruder war tot, es gab nur noch sie.
Jana saß auf dem Bett, hatte das Krankenhausnachthemd hochgezogen und ließ das unversehrte Bein baumeln. Ihr Hals war bandagiert, und Jan konnte einen Bluterguss erkennen, der sich unter der Bandage heraus auf der Brust ausbreitete.
Die Schminke, die sie in Jans Wohnung aufgetragen hatte, war verschmiert, doch niemand hatte sie ihr abgewischt. Vielleicht hatte sie sich aber auch mit allen Mitteln dagegen zur Wehr gesetzt. Denn selbst wenn bei ihr nun Lidschatten, Mascara und Kajal wie das Make-up einer Horrorgestalt aussahen, waren es gleichwohl die einzigen weiblichen Attribute, die ihr noch geblieben waren.
»Hallo«, sagte Jan und zuckte, als die mechanisch geführte Tür hinter ihm im Schloss einrastete.
»Hallo, Jan.«
Das Sprechen bereitete ihr sichtlich Mühe. Ihre Stimme war krächzend und schwach. Durch die Quetschung am Hals klang sie fremder denn je, irgendwie geschlechtslos,
weder nach Felix Thanner noch nach dem Wahnwesen, das sich Jana nannte.
»Sie haben uns …«, ein röchelndes Husten, »nicht in die andere Welt … gehen lassen.«
»Die andere Welt gibt es nicht. Es gab nur diese, hat nie eine andere gegeben. Und du bist ein Teil davon, auch wenn es dir anders vorkommen mag.«
Sie zuckte nur mit den Schultern, und Jan ertappte sich dabei, dass es ihm gleichgültig war, ob sie es einsah oder nicht. Er würde sie nicht überzeugen können, das hatte er inzwischen schmerzlich erfahren müssen.
»Ein Wahn wird stets um seine Existenz kämpfen«, hatte einmal einer seiner Professoren an der Uni gesagt. »Der Patient wird darauf beharren, dass es die Realität ist, und ganz gleich, wie wir darüber denken, ist es sein gutes Recht. Stellen Sie es sich doch nur einmal anders herum vor. Was wäre, wenn Ihr gesamtes Umfeld behauptete, dass Sie jemand anderes sind als der, der Sie zu sein glauben?«
»Ich weiß von dem Überwachungsvideo«, sagte Jan.
Sie senkte kurz den Kopf, und als sie ihn wieder hob, stieß sie ein boshaftes Kichern aus. »Schneller … als … ich dachte.«
Jan ballte die Fäuste. Ihm war danach, auf sie loszugehen. Diese Person, die nicht mehr Felix Thanner war, hatte sein Leben zerstört und ihm höchstwahrscheinlich den Menschen genommen, der ihm am meisten bedeutete.
Starks Worte kamen ihm in Erinnerung. Wenn sie Ihnen nicht sagen will, wo sich Frau Weller aufhält, gehen Sie wieder. Haben Sie das verstanden?
»Wo ist Carla?«
Sie grinste und entblößte ihre Zähne. Nun sah sie erst recht wie ein Schauerwesen aus. Etwas funkelte in ihren
Augen. Es war das Wissen, dass sie ihn noch immer in der Hand hatte. Man mochte sie verhaftet und hier eingesperrt haben, aber dennoch war sie nicht die Verliererin.
»Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe nur ihr Auto umgeparkt.«
»Hast du sie getötet?«
»Das würdest du …«, sie hustete, »mir zutrauen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Du …« Sie musste sich räuspern, damit ihre Stimme nicht versagte. »Du hasst mich, stimmt’s?«
»Ja, ich hasse dich. Ich hasse dich für alles, was du mir angetan hast.«
Sie nickte, und Jan sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, auch wenn das boshafte Grinsen nicht daraus verschwand. Doch nun war es zu Trotz geworden. Es war ein letztes Aufbegehren, dass sie im Recht war.
»Das ist wenigstens … eine … ehrliche Antwort.«
»Dann sei du ebenfalls ehrlich zu mir. Wo ist sie?«
Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Als sie Jan danach ansah, konnte er eine abgrundtiefe Traurigkeit in ihren Zügen erkennen.
»Ich wollte das alles … nicht«, krächzte sie. »Und ich wünschte … du würdest … deine Meinung über mich …«
Der Rest ihrer Worte ging in einem quiekenden Geräusch aus ihrer gequetschten Kehle unter. Sie hustete, zuckte bedauernd mit den Schultern und berührte den Verband an ihrem Hals, um Jan zu signalisieren, dass sie nicht weitersprechen konnte. Dann machte sie mit dem Finger eine schreibende Geste in ihre Handfläche.
»Na schön«, sagte Jan. »Ich bin gleich zurück.«
Er ging vor die Tür, wo ihn drei erwartungsvolle Gesichter empfingen.
»Sie will es mir verraten, aber ich brauche etwas zu schreiben.«
Stark zog einen Notizblock aus seiner Jacke, und noch während er die Taschen nach einem Kugelschreiber abtastete, reichte
Weitere Kostenlose Bücher