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Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition)

Titel: Ohne jeden Zweifel: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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B IS ZU DEM ANRUF war es ein ganz normaler Tag gewesen. Ich ging mit Einkäufen beladen zu meiner Wohnung gleich südlich der Themse in Bermondsey. Es war ein drückend heißer Augustabend, und als das Handy klingelte, überlegte ich, es einfach zu ignorieren, weil ich nur noch nach Hause und duschen wollte. Aber meine Neugier war stärker, also ging ich langsamer, zog das Handy aus der Tasche und hielt es mir ans Ohr. Schweiß perlte auf das Display. Es war mein Vater. Vor Kurzem erst war er nach Schweden gezogen, und der Anruf war ungewöhnlich – er benutzte sein Handy ohnehin nur selten, und ein Anruf nach London war teuer. Mein Vater weinte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und ließ die Einkaufstüte fallen. Ich hatte ihn noch nie weinen gehört. Meine Eltern hatten sich nie vor mir gestritten oder waren wegen irgendwas aus der Haut gefahren. Bei uns hatte es keine bösen Streits oder tränenreichen Szenen gegeben. Ich sagte:
    »Dad?«
    »Deine Mutter … Es geht ihr nicht gut.«
    »Ist sie krank?«
    »Es ist so traurig.«
    »Traurig, weil sie krank ist? Wie krank? Was hat sie denn?«
    Dad weinte immer noch. Ich konnte nur stumm warten, bis er erklärte: »Sie bildet sich Dinge ein – wirklich schlimme Dinge.«
    Es war so seltsam und kam so unerwartet, dass sie ein psychisches Problem haben sollte, dass ich mich erst einmal hinhocken und mit einer Hand auf dem warmen, rissigen Gehweg abstützen musste. Aus der heruntergeknallten Einkaufstüte sickerte Tomatensoße auf den Beton. Nach einem Moment fragte ich:
    »Wie lange schon?«
    »Den ganzen Sommer über.«
    Seit Monaten, und ich hatte nichts davon gewusst – ich hatte ahnungslos hier in London gesessen, während mein Dad mir nach alter Tradition alles verschwieg. Er erriet meine Gedanken und fügte hinzu:
    »Ich war sicher, ich könnte ihr helfen. Vielleicht habe ich zu lange gewartet, aber die Symptome haben sich erst nach und nach gezeigt – am Anfang war sie nur etwas überreizt und hat manchmal komische Dinge gesagt, aber so sind wir alle mal. Dann folgten Anschuldigungen. Sie behauptet, sie hätte Beweise, sie redet von Indizien und Verdächtigen, aber das sind alles Lügen und Unsinn.«
    Dad hatte aufgehört zu weinen, er sprach lauter, nachdrücklicher, als müsse er sich verteidigen. Er stockte nicht mehr, und in seiner Stimme lag mehr als nur Traurigkeit.
    »Ich habe gehofft, es würde vorbeigehen, sie müsste sich vielleicht nur an das Leben in Schweden und auf einem Bauernhof gewöhnen. Aber es wurde immer schlimmer. Und jetzt …«
    Meine Eltern gehörten einer Generation an, die nur bei Verletzungen zum Arzt ging, die man mit eigenen Augen sehen oder mit dem Finger ertasten konnte. Einen Fremden mit intimen Details aus ihrem Leben zu belasten war unvorstellbar.
    »Dad, sie war doch hoffentlich beim Arzt?«
    »Er glaubt, sie würde an einer akuten Psychose leiden. Daniel …«
    Mum und Dad waren die einzigen Menschen, die meinen Namen nicht zu Dan abkürzten.
    »Deine Mum ist im Krankenhaus. Ich musste sie einweisen lassen.«
    Als ich das hörte, öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hatte keine Ahnung, was, und am Ende blieb ich stumm.
    »Daniel?«
    »Ja?«
    »Hast du gehört?«
    »Ja, habe ich.«
    Ein verbeulter Wagen fuhr vorbei, wurde langsamer, damit der Fahrer mich angaffen konnte, blieb aber nicht stehen. Ich sah auf meine Uhr. Es war acht Uhr abends, heute würde ich keinen Flug mehr bekommen – ich würde morgen früh fliegen. Statt mich meinen Gefühlen zu überlassen, zwang ich mich zu funktionieren. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Nach den ersten aufwühlenden Minuten wurden wir wie immer – beherrscht und verhalten. Ich sagte:
    »Ich buche für morgen früh einen Flug. Danach rufe ich dich wieder an. Bist du auf dem Hof? Oder im Krankenhaus?«
    Er war auf dem Hof.
    Als wir uns verabschiedet hatten, holte ich alle Sachen einzeln aus der Einkaufstüte und reihte sie auf dem Bordstein auf, bis ich das gesprungene Glas Tomatensoße fand. Vorsichtig entfernte ich die Scherben, die nur noch vom Etikett zusammengehalten wurden. Ich warf sie in einen Abfalleimer in der Nähe, bevor ich mit Papiertüchern die restliche Soße von meinen Einkäufen wischte. Es wirkte vielleicht unnötig – Scheiß auf die Tüte, meine Mutter ist krank –, aber diese schlichten Handgriffe hatten für mich etwas Tröstliches. Schließlich nahm ich die Tüte und legte mit schnelleren Schritten den restlichen Weg nach Hause zurück, in

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