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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Kolyma« werden Gefühle – wie alles, was den Menschen ausmacht, selbst das Denken – auf der Ebene physiologischer Vorgänge beschrieben. »Nicht ein einziges Mal hing ich einem langen Gedanken nach«, erinnert sich Schalamow in »Die Sprache« an die eigenen Erfahrungen im Lager: »Versuche, das zu tun, verursachten geradezu körperlichen Schmerz. (...) All meine Gedanken waren demütig und stumpf. Diese sittliche und geistige Stumpfheit hatte ein Gutes — ich hatte keine Angst vor dem Tod und dachte ruhig daran. Mehr als der Gedanke an den Tod beschäftigte mich der Gedanke an das Mittagessen, an die Kälte, an die Schwere der Arbeit — kurz, der Gedanke an das Leben. Aber war das überhaupt ein Gedanke? Das war eine Art instinktives, primitives Denken.«
    Der Mensch im Lager lebe nur durch den Instinkt, hatte Schalamow an anderer Stelle formuliert. Dieser Überlebensinstinkt des Menschen wird beispielsweise in der Erzählung »Typhusquarantäne« erkundet: »Er wird die Wünsche seines Körpers erfüllen, das, was ihm der Körper in der Goldmine erzählt hat«, heißt es dort über die Hauptfigur Andrejew: »Die Schlacht in der Goldmine hat er verloren, doch das ist nicht die letzte Schlacht. Er ist die Schlacke, die die Goldmine auswirft. (...) Die Familie hat ihn betrogen, das Land hat ihn betrogen. Liebe, Energie, Begabung — alles zertrampelt, zerschlagen. Alle Rechtfertigungen, die das Hirn sucht, sind verkehrt, sind falsch, und Andrejew wußte das. Nur der von der Grube geweckte animalische Instinkt kann ihm einen Ausweg zeigen und zeigt ihn schon.« Völlig entkräftet durch die Arbeit in den Goldminen, waren Hunderte von Häftlingen in der Quarantänebaracke zum Dahinvegetieren verurteilt, das kaum noch mit Leben assoziiert werden konnte, für sie aber einen Aufschub des Todes bedeutete. Der Tod hatte längst seinen Schrecken verloren, war Normalität geworden. Um so erstaunlicher war aus Andrejews Sicht die Tatsache, daß er weiter lebte: »Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt.«
    Schalamow zieht den Leser der »Erzählungen aus Kolyma« in die Gegenwart des Lageralltags hinein. Er stellt seinen Leser, einer prägnanten Formulierung des Schriftstellers Andrej Sinjawski zufolge, einem Menschen gleich, der in die Bedingungen der Erzählung eingesperrt sei wie der Häftling in die Bedingungen der Lagers. Schalamows Poetik der Unerbittlichkeit konfrontiert den Leser damit, was es heißt, in der Lagerzivilisation gefangen zu sein, ohne Aussicht darauf, ihr je entkommen zu können.
    Schalamow verdichtet dies Gefühl einer grundsätzlichen Unentrinnbarkeit in der Erzählung »Lend-Lease« (1965) zu einem symbolträchtigen Bild, indem er die Wachtürme der Lager, Symbole des Terrors, mit den Architektursymbolen der neuen Epoche, den Moskauer Hochhäusern aus der Stalinzeit, zusammenführt: »Moskaus Hochhäuser sind die Wachtürme, die die Moskauer Häftlinge bewachen — so sehen diese Gebäude aus. Und wer hat die Priorität — die Kreml-Wachtürme oder die Lagertürme, die der Moskauer Architektur als Vorbild dienten? Der Turm der Lagerzone — das war die zentrale Idee der Zeit, glänzend ausgedrückt in Architektursymbolik.« Die Wachtürme der Lager werden hier zum generellen Signum einer Epoche, in der das Lager selbst in der Hauptstadt der neuen Sowjetzivilisation, im eigentlichen Machtzentrum, zum alles beherrschenden Modell des Lebens geworden zu sein scheint. In ein einprägsameres Bild läßt sich die Spezifik der sowjetischen Lagerzivilisation, in der es letztendlich keine klaren Opferkollektive gab und in der die Grenzen zwischen Lager und Nicht-Lager sich durchaus verwischen konnten, kaum fassen.
    Gerade weil in der Sowjetunion jeder potentiell zum Opfer werden konnte und Millionen auf die eine oder andere Weise den Terror- und Gewaltpraktiken ausgesetzt waren, verlangt Schalamow sich selbst als Schreibendem und seinem Leser enorme Anstrengungen ab. »Das Unmenschliche in der Erfahrung des Menschen«, so lautet auch Michail Ryklins Fazit, »hat vielleicht noch nie einen so radikalen Anschlag auf die Rechte der Literatur als Wortkunst verübt.« Schalamow war sich sicher, ein eigenes Wort in der Literatur über das Schicksal des Menschen unter Terror und Gewalt gesagt zu haben. Um so mehr hat er zeitlebens unter der

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