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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Unerbittlichkeit der Alltäglichkeit des Sterbens im Lager aus.
    Indem er die Prozesse der Deformation des Menschen im Lager mit literarischen Mitteln untersuchte, war es ihm jedoch nicht so sehr um eine Abrechnung mit dem Sowjetsystem und dessen Gewaltpraktiken zu tun, sondern vor allem darum, die Fragilität dessen aufzudecken, was wir gewohnt sind, als Zivilisation oder Kultur zu bezeichnen. Schalamows GULag, darin ist dem russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew beizupflichten, ist eher eine »Metapher für das Sein als eine politische Realität«. Die philosophische Ebene von Schalamows Nachdenken über das Dasein des Menschen unter Bedingungen von Hunger, Kälte, unmenschlicher physischer Arbeit und brutaler Gewalt war verbunden mit der Reflexion ästhetischer Konsequenzen für die literarische Produktion. Und Schalamow ging noch einen Schritt weiter. Er warf in einer bis dahin, zumindest für die russische Kultur, nicht gekannten Schärfe die Frage auf, mit welcher Vorstellung vom Menschen der (europäisch gebildete) Intellektuelle eigentlich ausgestattet sei.
    Schalamow zweifelte nicht daran, daß die humanistische Literatur des 19. Jahrhunderts eine Mitschuld trage an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, habe sie doch dem Menschen Hoffnung auf Rettung vermittelt, eine Hoffnung, die im 20. Jahrhundert durch Auschwitz und GULag endgültig zunichte gemacht worden war. Die Maßstäbe hätten sich total verschoben, schrieb Schalamow in einem Brief, man könne dem Menschen aber kaum einen Vorwurf machen, daß er »für die nützliche Sache der Verbesserung des Menschen« auf Stereotype zurückgreife. Nach Puschkin sei die russische Literatur – vor allem Tolstoj – in erster Linie mit moralischen Belehrungen befaßt gewesen und habe entsprechende literarische Muster entwickelt. In dieser Hinsicht war Schalamow kompromißlos: »Ich will nichts widerspiegeln, ich habe nicht das Recht, für jemanden zu sprechen (außer, vielleicht, für die Toten der Kolyma). Ich will über einige Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens unter bestimmten Bedingungen sprechen, nicht um irgend jemandem über irgend etwas zu belehren. Keinesfalls.«
    Die Auseinandersetzung um die humanistische Literaturtradition, deren Vertrauen in das Entwicklungspotential des Menschen und deren Eintreten für einen selbstlosen Kampf – auch um den Preis des eigenen Lebens – gegen das Böse in der Welt war der zentrale Polemikpunkt mit Alexander Solschenizyn. War er sich mit ihm in der Aufgabe einig, das Geschehen in den Lagern mit Hilfe der Literatur gegen das in der Sowjetunion verordnete Schweigen zu bezeugen, so gingen die Ansichten über die ästhetischen Mittel deutlich auseinander. Schalamow warf Solschenizyn vor, den belehrenden Tonfall der Prosa Tolstojs beizubehalten und nicht zu erkennen, daß die überkommenen Romanformen obsolet geworden waren. Hinter der Schwelle des Lagers bleibt in den »Erzählungen aus Kolyma« kein Raum für Hoffnung. An den grundsätzlich dezivilisierenden Folgen des Lagers für jeden Menschen ließ der Verfasser keinen Zweifel: »In einer Situation aber, wo die tausendjährige Zivilisation abfällt wie eine Schale und das animalische biologische Wesen vollkommen offen hervortritt, werden die Reste der Kultur zum realen und brutalen Kampf um das Leben in seiner unmittelbaren, primitiven Form genutzt.« Die ästhetischen Konsequenzen für ein Schreiben nach dem GULag konnten Schalamow zufolge nicht rigoros genug sein. Immer wieder stellte er die Frage, wie davon erzählt werden könne. »Der Intellektuelle«, schreibt er, »konnte das Lager nicht im voraus durchdenken, konnte es nicht theoretisch erfassen. Die gesamte persönliche Erfahrung des Intellektuellen — ist reinster Empirismus in jedem Einzelfall. Wie von diesen Schicksalen erzählen? Es sind ihrer Tausende, Zehntausende...«
    Ein Ausgangspunkt für Schalamow ist der grundsätzliche Zweifel, ob es nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts überhaupt noch möglich sei, den Protagonisten eines Romans oder einer Autobiographie als eine Figur in stetiger Entwicklung zu entwerfen. Der Leser begegne dem Romangenre mit größerem Mißtrauen, während sein Vertrauen in unterschiedliche Formen dokumentarischer Erinnerungsliteratur gestiegen sei. Roman und Autobiographie unterlägen Gattungsmerkmalen, die einer adäquaten literarischen Darstellung der Katastrophen, denen der Mensch im 20. Jahrhundert ausgesetzt war, nicht gerecht würden. Der

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