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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Süße noch riechen, die gestern die Küche erfüllt haben musste. Hatte sie die Schnecken als Henkersmahlzeit gebacken? Konnte sie so geschmacklos sein?
     
    Siri setzte sich auf den Küchenstuhl und starrte auf die blauen Zeilen. Wäre ihre Großmutter doch gestorben, dann hätte sie ihr die Schnecken aufs Grab gelegt, sie hätte die Rosen gedüngt, die sie ihr gepflanzt hätte. (Das Schriftbild, tiefblaue Tinte auf blauliniertem Papier.) Dann hätte sie sie in Erinnerung behalten als die Frau, die all das konnte, was man imLeben können musste. (Die Buchstaben waren langgezogen, zwischen den Wörtern klafften große Lücken, die den einzelnen Worten noch mehr Bedeutung gaben.) Dann hätte sie das alles weiter aufrechterhalten können. (Die Linien unterstrichen die Wörter, die Lücken, das Blau.) Dann wäre jetzt nicht der einzige Orientierungspunkt ihres Lebens zusammengebrochen.
    Sie stützte ihre Ellbogen auf, links und rechts von dem Brief, und legte ihren Kopf in die Handflächen. Tränen tropften auf das Papier, die Linien begannen zu verschwimmen. Das erste Wort verzog sich, dann das zweite. Aus der Tiefe kam nun die vertraute Stimme ihrer Großmutter, die Stimme sprach vom Glück. Sie hielt sich die Ohren zu. Sie wollte es nicht mehr hören, wollte keine einzige Beschwörungsformel mehr hören.
    Sie pfiff ganz leicht vor sich hin, so wie Großmutter es immer getan hatte, wenn sie Großvater nicht zuhören wollte. Dann biss sie sich auf die Knöchel, stützte die Stirn in die gefalteten Hände und weinte still. Man darf dem Glück nicht im Wege stehen, stand in dem Brief. Als ob Großvater irgendeine Stellung in ihrem Leben gehabt hätte. Sie richtete sich wieder etwas auf. Was blieb ihr nun? Eduard? Felix? Dass sie ihn auch noch Felix genannt hatte ...
    Sie drückte sich mit den Zeigefingern in die Augenwinkel. Ihre Zeigefinger wurden nass. Sie hörte die Stimme ihrer Großmutter wieder. Du wirst glücklich mit ihm werden, sagte sie in ihrer eindringlichen Melodie. Hatte sie das je geglaubt? Sie legte die nassen Zeigefinger an die Lippen, es schmeckte salzig. Sie wischte sich die Tränen ab, an ihren Handrücken zeigten sich die schwarzen Schlieren der verlaufenen Wimperntusche.
    Sie starrte vor sich hin. Unter ihr auf dem Tisch lag nun ein durchnässter, linierter Zettel mit einer fast unleserlichen, bläulichen Schrift darauf. Nur ein paar Worte waren noch deutlichzu erkennen. Genau genommen waren über den ganzen Zettel verteilt nur noch zwei Worte zu lesen, die jetzt, als sie sie entdeckt hatte, ganz deutlich aus der blauen Fläche herausragten. Die Worte lauteten: ›Du‹ und ›nichts‹.
    Sie kniff die Augen zusammen und schaute zu Boden.
     
    »Siri?« Großvater stand frisch rasiert in einem Morgenrock im Türrahmen.
    Jetzt hatte sie den Schreck bekommen, nicht er.
    »Ist alles in Ordnung? Du weinst ja.«
    Sie wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht und legte schnell ihren Unterarm über den durchnässten Zettel: »Nichts ist, nichts.«
    Er blieb im Türrahmen stehen und schaute sie ungläubig, liebevoll an.
    Sie versuchte seinem Blick zu entgehen, schaute auf den Boden: »Eduard ...«
    Die Sorgenfalten im Gesicht ihres Großvaters lichteten sich etwas, und aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie er auf sie zukam. Als er neben ihr stand und ihr über die Haare strich, merkte sie, dass er gar nicht so alt und großväterlich roch, wie sie vermutet hatte. Eigentlich roch er sogar gut, nach einem teuren Parfum und der zimtigen Seife, die er immer benutzte.
    »Ist Charlotte schon Einkaufen?«
    Und bevor sie nachdenken konnte, kam ein »Ja« über ihre Lippen. Sie schluckte und holte sich ein Taschentuch, um Zeit zu gewinnen.
    »Du bist ja ganz in Schwarz heute«, sagte er, »hat das was zu bedeuten?«
    »Ich ...«
    »Steht dir. Etwas düster, aber steht dir.«
    »Ich ...«
    »Nein, wirklich, siehst aus wie ein Filmstar. Wie ein echter Filmstar. Ich frage mich sowieso immer, wie ich zu einer Enkeltochter komme, die aussieht wie ein Filmstar. Und woher du diese blonden Haare hast. Charlotte ...«
    »Großmutter ist Einkaufen«, sagte sie.
    »Sollen wir uns solange einen Tee machen?« fragte er.
    »Tee«, sagte sie und steckte den Zettel in ihre Manteltasche.
    Er ging zum Wasserkocher, füllte ihn und holte die alte Teekanne, das Milchkännchen, Kandisstangen und kleine silberne Löffel aus dem Schrank. Ihr war noch nie aufgefallen, wie sicher die Bewegungen ihres Großvaters waren, es lag

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