Zerelf (Von den Göttern verlassen) (German Edition)
P ROLOG
Sie kamen nicht in der Nacht. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war Mittagszeit. Serena saß mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Tisch, vor sich eine karge Mahlzeit. Eine Suppe, für jeden ein Stück Brot und Wurst. Wurst gab es nicht immer. Aber ihr Vater hatte eine neue Stelle bekommen. Das wollte er feiern und Serena eine Freude machen. Doch Serena brauchte weder die Wurst noch das trockene Stück Brot, das es immer zur Mittagssuppe gab, vielleicht nicht einmal die Suppe. Sie brauchte nur ihn. Sie wollte ihn nur betrachten, sein Gesicht, seine blauen Augen, wenn sie aufleuchteten und seine Mundwinkel sich nach oben zogen.
„Das ist ein Lächeln“, hatte er ihr erklärt, „man lächelt, wenn etwas Gutes passiert. Wenn man sich freut.“
FREUEN, LÄCHELN. Serena verstand, dass es eine Verbindung gab, konnte jedoch mit dem Begriff „Freuen“ nichts anfangen und vermied es nachzufragen. Als sie einmal wissen wollte, was „Gefühle“ seien, hatte er sie mit einem Ausdruck in den Augen angesehen, den er nur bekam, wenn er ihre Mutter anschaute. Jedes Funkeln und Strahlen, das sonst in seinen Augen tanzte, starb. Serena wollte die Funken zurück und der Gedanke, sie würden nie wiederkommen, verursachte ein seltsames, unangenehmes Ziehen in ihrem Bauch. Allen Ungereimtheiten zum Trotz festigte sich bei Serena „Freuen“ als tanzendes Funkeln in den Augen und das Hochzucken der Mundwinkel.
Draußen auf dem Hof an der kleinen Holzhütte stand ein Fass, über dem ein Spiegel hing. Ihr Vater hatte ihn dort zum Rasieren aufgehängt. Serena war einmal auf das Fass geklettert und hatte lange die kleine Version ihres Vaters betrachtet, die ihr aus der trüben Oberfläche entgegen starrte. Den Witterungen ausgesetzt, hatte sich der Spiegel am Rand bereits hier und da rostbraun verfärbt. Serena sah das gleiche lockige schwarze Haar, die gleichen blauen Augen. Ihre Haut war heller, die Augenbrauen dünner und die Gesichtszüge feiner und kindlicher.
Doch Serena suchten nicht nach diesen Ähnlichkeiten. Etwas Gravierendes fehlte. Sie starrte so lange in den Spiegel, bis ihre eigenen Gesichtszüge zerflossen und sie ihren Vater vor sich sah. Aber etwas stimmte immer noch nicht. Etwas war anders.
Das Lächeln fehlte.
Serena versuchte ihre Mundwinkel hochzuziehen, um den schönen Bogen nachzuahmen, der so gut wie immer die Lippen ihres Vaters umspielte. Es dauerte eine Weile, bis sie herausgefunden hatte, wie sie ohne Zuhilfenahme der Hände ihre Gesichtszüge verändern konnte. Nach mehreren Versuchen bildeten ihre Lippen endlich einen schönen Bogen und sie ließ ihren Blick vom Mund zu den Augen wanderten. Sie waren glanzlos, stumpf und leer.
Plötzlich verschwamm das Bild und statt schwarzem sah Serena blondes Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt war. Graue Augen, die ihr ausdruckslos entgegen starren. Sie blickte in das Gesicht ihrer Mutter: makellos, wunderschön und kalt. Während das ihres Vaters sich ständig veränderte, jedes der kleinen Fältchen in einem synchronisierten Tanz auf - und abzuspringen schien, waren die Züge ihrer Mutter wie in Stein gemeißelt. Die Augen ohne Licht und stumpf, wie ihre eigenen. Das Bild verschwamm und Serena sah wieder ihr kindliches Gesicht vor sich, das plötzlich viel mehr ihrer Mutter glich als ihrem Vater. Als hätte sich der Maler nur in den Farben der Augen und des Haares geirrt.
Auch jetzt, wenn sie in das verklärte, sich unförmig in der Suppe spiegelnde Bild sah, fand sie kein Licht. Sie schaute hoch in die Augen ihres Vaters, der ihren Blick mit einem leichten Tanz um Augen und Lippen erwiderte. Serena formte ihre Lippen wie ein kleiner Affe in dem Bogen, den sie so lange einstudiert hatte. Ihre Mühe wurde mit einem feurigen Lichtertanz und einem gurgelnden Laut belohnt. LACHEN.
Während sich die kleine Serena immer tiefer in den Augen ihres Vaters verlor, wurde plötzlich die Eingangstür gewaltsam aufgestoßen und krachte gegen die Hauswand. Männer in Rüstungen stürmten herein und warfen alles um, was ihnen im Weg stand, ergriffen Serenas Vater und prügelten ihn aus dem Haus. Sie packten auch Serena und ihre Mutter, zerrten sie hinaus und schleuderten sie in den Dreck. Serena sah das Aufblitzen von Stahl und eine Schwertspitze, die auf sie gerichtet war.
„NEIN!!! Sie können nichts dafür! Es ist alles meine Schuld. Bitte verschont sie! Sergej ich flehe dich an. Um unserer alten Freundschaft willen. Ich tue alles, aber bitte verschont
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