Dystopia
schrie nach Paige und Bethany, so laut, dass ihm dabei der Hals schmerzte.
Paige hatte Travis seit einer halben Minute nicht mehr rufen gehört. Jetzt hörte sie ihn wieder, und zwar dicht genug, um aus seinem Tonfall etwas herauszuhören, was ihr bislang entgangen war: Panik.
Er drängte sie, sich zu beeilen, so schnell zu laufen, wie sie nur konnten.
Paige hatte bereits das Gefühl, am Limit zu sein, bei seinem Tonfall aber stellte sie fest, dass es auf einmal doch noch ein wenig schneller ging. Bethany ging es genauso.
Travis hörte nicht auf, nach ihnen zu schreien, um ihnen die Richtung zu weisen.
Er schaute gar nicht mehr auf die Uhr. Wozu auch. Sie würden es entweder schaffen oder eben nicht. Es war eine Qual, ihnen nicht entgegenlaufen und die Entfernung für sie dadurch abkürzen zu können. Er konnte nur dastehen und in einem fort nach ihnen schreien, so laut, dass er sie nicht einmal näher kommen hörte.
Paige sah ihn. Nur fünfzig Meter entfernt. Sie sah, wie er auf ihren Anblick reagierte. Sah die Iris, die direkt neben ihm in der Luft schwebte, während er sie hektisch heranwinkte.
Auch den Zylinder sah sie, der achtlos beiseitegeworfen auf der Erde lag. Nahm wahr, dass aus dem Gehäuse sich kräuselnde Schwaden aufstiegen, Rauch möglicherweise.
Sie begriff sofort, ohne tatsächlich zu begreifen.
Und wusste im selben Moment, dass die Zeit drängte und sie besser noch einen Zahn zulegen sollte. Sie scheuchte Bethany vor sich.
«Spring hindurch!», schrie Paige. «Bleib nicht vorher stehen!»
Sie sah, wie Bethany nickte.
Sie legten die letzten paar Meter zurück, und dann hechtete Bethany durch die Öffnung wie ein Kind, das durch einen Hula-Hoop-Reifen springt. Paige folgte ihr und gelangte über die Schwelle in eine Welt, die erfüllt war von grün gefiltertem Sonnenlicht, dem Rauschen von Verkehr und einem Heulen, das sich nach Turbinentriebwerken anhörte. Sie landete neben einem Strauch auf der Erde und hob den Blick. Sie befand sich am Rand eines Gehölzes, vor dem sich eine weitläufige, sonnenbeschienene Rasenfläche erstreckte, bei der es sich nur um die Sheep Meadow handeln konnte. Rings um die große Wiese waren Hunderte Schaulustige versammelt, und in der Mitte stand – ein unwirklicher Anblick – ein mächtiger Hubschrauber der US Air Force. Paige hatte es kaum registriert, als sie merkte, wie Travis unsanft neben ihren Beinen landete. Sie wandte sich zu ihm um, aber er schaute nicht in ihre Richtung, sondern nach oben, zu der Iris hinter ihnen.
Als Paige seinem Blick folgte, kaum eine Sekunde nach seiner Landung, war dort allerdings nur noch dichtbelaubtes Strauchwerk vor einem wolkenlos blauen Himmel zu sehen. Von der Iris fehlte bereits jede Spur.
47
Vier Tage später wurde Travis ein letztes Mal auf den neuesten Stand der Dinge gebracht. Er saß im hinteren Teil einer Boeing 757 der United Airlines, die sich gerade im Anflug auf den Flughafen Kahului auf der Insel Maui befand, als sein Handy klingelte. Es war Garner.
Alle Liegenschaften von Longbow Aerospace waren einer gründlichen Durchsuchung unterzogen worden. Als Travis mit dem verlöschenden Zylinder im Central Park landete, waren die Razzien bereits in vollem Gang gewesen. Veranlasst worden waren sie durch jene Handvoll Beamter auf der mittleren Führungsebene des Justizministeriums, denen Garner ganz und gar vertraute, und schon nach wenigen Stunden war bergeweise Beweismaterial sichergestellt: Hardware und Software zur Steuerung der seltsamen und überraschenden Instrumente, die tatsächlich an Bord der Longbow-Satelliten um die Erde kreisten. Zu dem Zeitpunkt waren die Informationen bereits in zu viele unbestechliche Hände gelangt, um noch vertuscht oder unterdrückt werden zu können. Nicht einmal Präsident Currey konnte dem noch einen Riegel vorschieben.
Die wirklichen Hintergründe der Geschichte würde man der Öffentlichkeit wohlweislich vorenthalten, ganz, wie Travis schon erwartet hatte. Die Version, die stattdessen in Umlauf gebracht wurde, kam aber der Wahrheit ziemlich nahe: Longbow hätte wissentlich ein waffentragendes System in die Umlaufbahn geschossen, das gegen eine ganze Anzahl von Verträgen und Bestimmungen des Völkerrechts verstieß. Der Konzern hätte ohne Genehmigung oder auch nur Wissen des Präsidenten gehandelt – obwohl eine ganze Reihe Amtsträger innerhalb der Regierung in die Sache verwickelt seien. Schon bald packten die Ersten aus. Belasteten sich
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