Echte Biester: Roman (German Edition)
werden.
»Diesmal wollen sie, dass ich nach Schanghai fliege«, erklärte sie ihrem Sohn. »Da drüben sitzen ungefähr fünfzig Leute, die mit irgendeiner billigen Sprachkassette Chinesisch gelernt haben. Als neulich einer von ihnen zu einem Minister sagen wollte, dass er schöne Schuhe anhabe, hat er ihm erzählt, dass sein Gesicht wie eine Warze am Hintern aussehe. Sehr peinlich.«
»Hast du Pop schon erzählt, dass du nach China gehst?«
»Das kommt als Nächstes dran.«
Daraufhin verdrückte sich Wahoo nach draußen, um Alices Teich zu säubern. Der Alligator Alice war einer von Mickey Crays Stars. Sie hatte eine Länge von vier Metern und war zahm wie ein Guppy, sah aber extrem furchterregend aus. Im Laufe der Jahre hatte Alice oft vor der Kamera gestanden und bei neun Spielfilmen, zwei Dokumentarfilmen von National Geographic, einem dreiteiligen Special über die Everglades sowie einem TV-Werbespot für eine edle französische Hautcreme mitgemacht.
Während Wahoo welkes Laub und Zweige aus dem Wasser fischte, lag Alice am schlammigen Ufer und sonnte sich. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, wusste Wahoo, dass sie lauschte.
»Hungrig, Mädchen?«, fragte er.
Der Alligator riss sperrangelweit das Maul auf, dessen Inneres so weiß wie Baumwolle war. Einige von Alices Zähnen waren abgebrochen, an den Zahnspitzen klebten grüne Teichalgen.
»Du hast vergessen, dir die Zähne zu putzen«, sagte Wahoo.
Alice stieß ein Zischen aus, worauf Wahoo ihr etwas zu essen holen ging. Als sie das Quietschen der Schubkarre hörte, öffnete sie die Augen einen Spaltbreit und drehte den riesigen gepanzerten Kopf in Wahoos Richtung.
Wahoo warf ein gerupftes Hühnchen in das aufgerissene Maul des Alligators. Das malmende Geräusch, mit dem der aufgetaute Vogel verspeist wurde, überlagerte die Stimmen, die aus dem Haus zu hören waren – Wahoos Eltern »besprachen« die Chinareise.
Nachdem Wahoo Alice zwei weitere Hühnchen serviert hatte, schloss er das Gatter zum Teich ab und machte einen kleinen Spaziergang. Als er ins Haus zurückkehrte, saß sein Vater kerzengerade auf dem Sofa, während seine Mutter in der Küche Wurstsandwiches für den Lunch zurechtmachte.
»Ist denn das zu fassen?«, sagte Mickey zu Wahoo. »Sie lässt uns einfach im Stich!«
»Pop, wir sind pleite.«
Mickey ließ die Schultern sinken. »Nicht völlig pleite.«
»Willst du, dass die Tiere verhungern?«, entgegnete Wahoo.
Während sie ihre Sandwiches aßen, wurde kaum ein Wort gesprochen. Als sie fertig waren, stand Mrs. Cray auf und sagte: »Ihr beide werdet mir fehlen. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben.«
Dann ging sie ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Mickey war wie benommen. »Dabei mochte ich Leguane immer so gerne.«
»Wir kommen schon zurecht.«
»Mein Kopf tut weh.«
»Dann nimm eine von diesen gelben Pillen«, sagte Wahoo.
»Die hab ich weggeschmissen.«
»Was?«
»Weil ich Verstopfung davon gekriegt hab.«
Wahoo schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«
»Im Ernst. Seit Ostern geht da gar nichts mehr.«
»Danke für die Information«, sagte Wahoo. Während er das Geschirr in die Spülmaschine räumte, versuchte er, nicht daran zu denken, dass seine Mom bald zum anderen Ende der Welt fliegen würde.
Mickey stand auf und entschuldigte sich bei seinem Sohn.
»Ich bin einfach nur egoistisch. Ich will nicht, dass sie wegfährt.«
»Ich auch nicht.«
Am folgenden Sonntag standen sie alle vor Tagesanbruch auf. Wahoo schleppte die Koffer seiner Mutter zum Taxi, das bereits vor dem Haus wartete. Als sie ihm einen Abschiedskuss gab, hatte sie Tränen in den Augen.
»Pass auf deinen Dad auf«, flüsterte sie.
Anschließend sagte sie zu Mickey: »Sieh zu, dass du wieder gesund wirst. Das ist ein Befehl, Mister.«
Bedrückt blickte Wahoos Vater dem Taxi hinterher. »Kommt mir vor, als würde sie uns zweimal verlassen«, stellte er fest.
»Wie meinst du das, Pop?«
»Hast du vergessen, dass ich alles doppelt sehe? Da fährt sie davon – und da noch mal.«
Für solche Bemerkungen war Wahoo im Moment nicht in Stimmung. »Willst du Eier zum Frühstück?«
Nach dem Frühstück ging er hinaus, um sich mit einem Brüllaffen namens Jocko zu befassen, der das Schloss seiner Käfigtür geknackt hatte. Jetzt sprang er draußen herum und ärgerte die Papageien und Aras. Da Jocko ziemlich aggressiv war, musste Wahoo vorsichtig sein. Nach einer Weile gelang es ihm, den ruppigen Primaten mit einer Mandarine in
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