Echte Morde
KAPITEL EINS
„Heute geht es um einen der faszinierendsten Mordfalle überhaupt: den Fall Wallace", verkündete ich meinem Spiegelbild begeistert.
Dann wiederholte ich den Satz noch einmal ruhig und gelassen und dann noch einmal ernst.
Prompt verfing sich meine Bürste in einer verfilzten Haarsträhne. „Mist!", fluchte ich leise. Also noch mal von vorn.
„Der Fall Wallace wird uns heute den ganzen Abend beschäftigen!", erklärte ich, diesmal entschieden.
Zwölf Treffen pro Jahr und zwölf Teilnehmer, auf die man regelmäßig zählen konnte: Das war perfekt. Natürlich ließ sich nicht mit jedem Mordfall gleich ein ganzer Abend bestreiten: Unsere Treffen dauerten in der Regel zwei Stunden. Gab der
„Mord des Monats", wie wir halb im Ernst, halb im Spaß dazu sagten, das nicht her, lud das verantwortliche Clubmitglied einen Gast ein. Das konnte jemand aus der Polizeiverwaltung unserer Stadt sein, ein Psychologe, der mit Straffälligen arbeitete oder die Leiterin der örtlichen Beratungsstelle für Sexualverbrechen. Ein- oder zweimal hatten wir uns auch schon einen Film angesehen.
Aber ich brauchte auf solche Hilfsmittel nicht zurückzugreifen, ich hatte in diesem Jahr bei der Verlosung Glück gehabt.
Zum Mordfall Wallace lag genug Material vor, aber doch nicht so viel, dass ich meinen Vortrag hätte straffen müssen, um alle Bereiche abzudecken. Für Jack the Ripper hatten wir damals gleich zwei Abende angesetzt: Jane Engle hatte das Treffen geleitet, bei dem es um die Opfer und die näheren Umstände der einzelnen Verbrechen ging, während Arthur Smith sich ausschließlich auf die polizeilichen Ermittlungen und die einzelnen Verdächtigen beschränkt hatte. Jack konnte man unmöglich so nebenbei und in aller Eile abhandeln.
„Betrachten wir als erstes die Grundzüge dieses Mordfalls", fuhr ich fort. „Als da wären: ein Mann, der behauptete, Qualtrough zu heißen, ein Schachturnier, eine scheinbar völlig harmlose und unschuldige Frau namens Julia Wallace und natürlich der Mann, den man letztlich anklagte: Julias Ehemann, William Herbert Wallace." Ich fasste mein Haar zusammen, sicherte es mit einer braunen Spange und überlegte, ob ich mir einen Zopf flechten oder meine Haare einfach mit einem Haarband bändigen sollte. Der Zopf war besser, damit kam ich mir immer wie eine Intellektuelle mit künstlerischem Einschlag vor. Während ich mein Haar in die entsprechenden Stränge teilte, fiel mein Blick auf das Studioporträt meiner Mutter, das sie mir mit der Bemerkung, ich hätte doch immer eins haben wollen, zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Meine Mutter wies eine auffallende Ähnlichkeit mit Lauren Bacall auf. Sie war mindestens einen Meter siebzig groß, elegant vom Scheitel bis zur Sohle und hatte sich in unserem Städtchen ein kleines Maklerinnenimperium aufgebaut. Ich war einen Meter fünfzig groß, trug eine große, runde Schildpattbrille und hatte mir mit meiner Berufswahl - ich war Bibliothekarin - einen Kindheitstraum erfüllt. Meine Mutter hatte mich Aurora genannt. Allerdings hieß sie selbst Aida, da mochte einem Aurora vergleichsweise harmlos erscheinen.
Seltsam, aber wahr: Ich liebte meine Mutter.
Leise seufzend, denn ich seufzte oft, wenn ich an meine Mutter dachte, flocht ich mir den Zopf, geschickt und mit einer Geschwindigkeit, die ich mir in jahrelanger Übung erworben hatte. Danach beäugte ich mich kritisch im großen Spiegel meines Schlafzimmers: nussbraunes Haar, braune Brille, braune Augen, rosa Wangen (künstlich), gute Haut (echt). Es war Freitagabend. Zur Feier des Wochenendanfangs hatte ich meine Arbeitskleidung aus Rock und Bluse gegen ein eng anliegen-des weißes Strickoberteil und eine dunkle Hose eingetauscht, eine Kombination, die mir im Nachhinein für William Herbert Wallace nicht mehr festlich genug erschien. Kurz entschlossen krönte ich meinen Zopf mit einer safranfarbenen Schleife und zog einen gelben Pullover an.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, dass es endlich Zeit war zu gehen. Rasch legte ich noch etwas Lippenstift auf, schnappte mir meine Handtasche und eilte die Treppe hinunter. Unter mir lag der große Wohn-, Ess- und Küchenbereich, der die hintere Hälfte des Erdgeschosses meines Hauses einnahm. Alles war sauber und aufgeräumt, denn ich hasste es, in ein unordentliches Haus zurückzukommen. Ich suchte meinen Notizblock und die Schlüssel zusammen, wobei ich die ganze Zeit einzelne Fakten des Mordfalls Wallace vor mich hinmurmelte.
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