Echte Morde
Eigentlich hatte ich vorgehabt, die unscharfen alten Fotos von Julia Wallaces Leiche zu kopieren und an die Teilnehmer des Abends zu verteilen, damit sich jeder ein konkretes Bild vom Tatort machen konnte.
Ich hatte mich dann jedoch dagegen entschieden, da mir die Fotos zu unheimlich erschienen und es respektlos gegenüber Mrs. Wallace war sie zu verteilen.
Unser Club befasste sich mit echten Mordfällen und hieß auch so: Echte Morde. Wer unsere Begeisterung für alte Verbrechen nicht teilte, hielt uns höchstwahrscheinlich für etwas seltsam, da brauchte man sich nicht gleich auch noch den Vorwurf einzuhandeln, wir würden bei unseren Treffen Unheimliches zur Schau stellen. So oder so hängten wir unsere Aktivitäten nicht an die große Glocke.
Ich schaltete das Außenlicht ein und schloss die Tür ab. Es war Frühling, und wir hatten noch Winterzeit, es wurde also früh dunkel. Im hellen Licht der Lampe über der Hintertür wirkte meine kleine Terrasse mit ihrem hohen Zaun, der als Sichtschutz diente und Abgeschiedenheit garantierte, schön und gefegt. In den großen Kübeln setzten die Rosenbäumchen gerade erste Knospen an.
„Auf geht es nun, zum Morden schreiten wir!", sang ich leise vor mich hin, während ich die Gartenpforte hinter mir schloss.
Jedes der vier Reihenhäuser in unserem Komplex „besaß" auf dem Parkplatz hinter den Häusern zwei Stellplätze. Weitere für Besucher standen vor den Häusern zur Verfügung. Zwei Häuser weiter stieg gerade mein Nachbar Bankston Waites in seinen Wagen.
„Wir treffen uns vor Ort", rief er mir zu. „Ich muss noch Melanie abholen."
„Gut, Bankston. Heute ist Wallace dran!"
„Ich weiß. Wir freuen uns schon."
Ich ließ den Motor an, ließ Bankston jedoch höflich die Vorfahrt, da er ja noch die Dame seines Herzens abholen wollte.
Sollte ich neidisch werden? Immerhin hatte Melanie Clark einen Freund, während ich stets allein bei Echte Morde auftauchte.
Aber nein, der Abend war zu schön, um sich die Laune verderben zu lassen. Ich war auf dem Weg zu einem Treffen mit Freunden, bei dem ich mich amüsieren würde, wie immer an den Freitagabenden, an denen wir uns sahen. Möglicherweise sogar noch mehr als sonst.
Als ich rückwärts aus der Parkbucht fuhr, fiel mir auf, dass im Haus direkt neben meinem sämtliche Lichter brannten und auf einem der dazugehörenden Parkplätze ein mir unbekanntes Fahrzeug stand. Aha - das also hatte mir meine Mutter mit der Nachricht mitteilen wollen, die sie mir an die Hintertür geheftet hatte.
Meine Mutter drängte mich seit geraumer Zeit zum Erwerb eines Anrufbeantworters. Angeblich, damit die Mieter unseres Reihenhauskomplexes (Mutters Mieter) mir (der vor Ort lebenden Hausverwalterin) Nachrichten hinterlassen konnten, wenn ich persönlich nicht erreichbar war. Dieses Argument zog bei mir nicht, hegte ich doch den Verdacht, dass Mutters Wunsch nach einem Anrufbeantworter im Haus ihrer Tochter ausschließlich persönlich motiviert war: Sie wollte mit mir reden können, selbst wenn ich gar nicht da war.
Ich hatte nach dem Auszug der letzten Mieter für eine gründliche Reinigung des Hauses neben meinem gesorgt. Es befand sich, wie ich mir beim Anfahren noch einmal versicherte, in tadellosem Zustand und konnte jederzeit vom neuen Mieter bezogen werden. Am nächsten Tag war mein freier Samstag, ich hatte also Zeit, mich nebenan vorzustellen und den neuen Nachbarn kennenzulernen.
Mein Weg führte mich die Parson Road hinauf und an der Bibliothek vorbei, in der ich arbeitete. Hinter der Bibliothek bog ich links in ein Gebiet mit kleinen Läden und Tankstellen ab, in dem sich auch die Versammlungshalle der Kriegsveteranen befand, und die ganze Fahrt über ging ich im Kopf noch einmal meinen Vortrag durch.
Dabei hätte ich meine Notizen genauso gut zu Hause liegen lassen können.
KAPITEL ZWEI
Der Club Echte Morde traf sich in den Räumen des Vereins der Kriegsveteranen. Wir zahlten ihnen einen kleinen Beitrag dafür, dass sie uns dort tagen ließen. Das Geld wanderte in den Topf für die Kosten der jährlichen Weihnachtsfeier, weswegen alle Seiten mit dieser Lösung sehr zufrieden waren. Natürlich war die Versammlungshalle eigentlich viel zu groß für eine relativ kleine Gruppe wie Echte Morde, aber wir waren hier ganz unter uns und das gefiel uns gut.
Ein Vereinsvertreter traf sich jeweils eine halbe Stunde vor den Zusammenkünften mit einem unserer Clubmitglieder, um die Räume aufzuschließen. Dieses Clubmitglied
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