Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
Blut.
Beim letzten Mal haben sie sich die scharfen Spitzen ihrer Taschenmesser in die Daumenkuppen gebohrt und ihr Blut vermischt, es sich gegenseitig auf die Stirn geschmiert, dass es aussah wie lodernde Glut. Damit waren sie wahrhaft Brüder geworden, so fest verbunden wie Geschwister. Doch Glut wird zu Asche, und Blut ist manchmal nicht genug.
Und jetzt seht sie euch an. Der eine schon mehr tot als lebendig, der andere erfüllt vom Wunsch, nie geboren zu sein. Seht ihr das ganze Blut? Einen Mord genau zu planen könnte durchaus helfen, ist allerdings keine Garantie dafür, dass er weniger blutig ausfällt. Doch wenn es einfach so passiert, im Zorn, mit dem, was gerade zur Hand ist – einem Schraubenschlüssel, mit dem man sämtliche Zähne ausschlagen, Augenhöhlen durchbohren und Wangenknochen zertrümmern kann, einem Schraubenzieher, der sich durch Knorpel und Nervenstränge bohrt, Leber und Milz perforiert und Blut aus zerfetzten Kehlen schießen lässt –, wenn ein Mord also einfach so passiert, kann man sich kaum vorstellen, wie viel Blut dabei fließt.
In der Forensik teilt man Blutspuren in sechs verschiedene Untergruppen ein: Tropfen, Flecke, Spritzer, Streifen, Schlieren und Lachen. Hier finden sich alle sechs: Tropfen auf dem Steinboden, Flecke an den Wänden, Spritzer an den Neonröhren und überall an der Decke, Streifen, weil der Sterbende versucht hat, seinem Mörder zu entkommen, Schlieren auf der Motorhaube des Wagens und am Garagentor und schließlich die dunkelrote Lache, die das Blut unter dem Toten bildet.
Der Mörder weint, heult über seine Tat, willenlose, krampfartige Tränen, nicht aus Reue, sondern aus Schock, Erleichterung, Euphorie angesichts der schönen neuen Welt, die er erschaffen hat, einer Welt, auf der es jetzt einen Menschen weniger gibt. Er wischt sich mit dem Handrücken die Tränen ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und den Rotz von der laufenden Nase. Sein Atem geht immer noch heftig, bebend und stoßweise, wie Schluchzen. Er fällt auf die Knie, legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen.
Seht ihn euch an. Seht ihr sein Gesicht? Blut klebt ihm am Haaransatz, in den Augenbrauen, im Schnurrbart, hat sich in den Fältchen an Nacken und Ohren gesammelt, Blut, das ihn zum Erwählten salbt, zum Urmörder, zum Mörder seines Bruders. Seht ihn euch an, den glücklichen Wilden. Er hat den folgenschweren Fehler in Gottes Schöpfungswerk gefunden: Wenn selbst Kain die Hand gegen Abel erheben und ihn erschlagen konnte, was sollte dann uns andere davon abhalten?
E RSTER T EIL
»Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.«
Genesis 4:10
Eins
Am Abend nach der Beerdigung meiner Mutter hatte Linda Dawson an meiner Schulter geweint, mir die Zunge in den Mund geschoben und mich gebeten, ihren Mann zu suchen. Jetzt lag sie tot auf dem Boden ihres Wohnzimmers, und von den umliegenden Hügeln hallte das Martinshorn eines Polizeiwagens wider. Linda war erwürgt worden: Geronnenes Blut klebte ihr in den Mundwinkeln, und die rot unterlaufenen Augen traten fast aus den Höhlen. An ihrem Hals sah man keine Würgemale, was nahe legte, dass die Mordwaffe ein Schal oder eine Seidenkrawatte gewesen war. Ihre ohnehin bleiche Haut hatte sich durch die einsetzende Zyanose bläulich verfärbt, vor allem an Lippen und Ohren und an den Fingernägeln. Die Hände, fest zu kleinen Fäusten geballt, ruhten steif in ihrem Schoß, und die Augen starrten blicklos durch die gläserne Wand Richtung Himmel. Lindas Leiche wirkte wie eine besonders groteske Parodie auf die Kunstfertigkeit des Bestattergewerbes.
Das Geheul der Polizeisirene erreichte seinen ohrenbetäubenden Höhepunkt und brach dann unvermittelt ab. Und während die Autotüren zuschlugen, während die Polizisten die Einfahrt entlangtrampelten und an die Haustür hämmerten, wanderte mein Blick in die Richtung, in die auch Linda zu schauen schien, hinaus in den grauen Morgenhimmel, dann weiter abwärts, die Klippen entlang, zwischen den Gruppen von Fichten und Pinien hindurch, hinunter bis zu den mächtigen georgianischen Häusern, viktorianischen Schlössern und modernen Villen von Castlehill, hinunter bis dorthin, wo vor nicht einmal einer Woche alles angefangen hatte.
* **
Wir standen auf der Terrasse des Hotels Bayview und sahen zu, wie sich ein blähbäuchiger alter Mond langsam aus dem Meer emporhievte. In der Dublin Bay glitzerten die Lichter der Stadt im
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