Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Kapitel 1
Zwischen Super-Mamas und Erziehungsnotstand - Wenn aus Kindern Tyrannen werden
In deutschen Wohnstuben sind sie allabendlich auf den TV-Schirmen zu sehen: »Super-Nannies« oder Super-Mamas werden vor laufenden Kameras in einen Familienalltag eingeschleust, in dem schon längst so ziemlich alles kaputt gegangen zu sein scheint. Ein Familienalltag, der nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir ursprünglich einmal im positiven Sinne damit verbunden haben. Stattdessen: auÃer Rand und Band geratene Kinder, kreischende, schreiende Eltern und Geschwister: schlagende Beispiele einer menschlichen Entwicklungsstufe, die doch eigentlich unser aller Zukunft sein sollte.
Die Botschaft ist klar: Deutschlands Kinder sind nur noch mit harten Methoden, einer Art »Zero-Tolerance«-Strategie in der Erziehung auf Kurs zu bringen.
Derartige Ãberzeichnungen von auf Krawall gestylten Dokus deutscher TV-Stationen, gesendet zur Prime-Time, umringt von den teuersten Werbeplätzen des Programms, werden gerne als »Schund«, »Unterschichten-TV« oder »peinlich« gebrandmarkt. Und doch bringen sie oft genug ein latent in der Gesellschaft vorhandenes Gefühl ebenso auf den Punkt wie die fette Schlagzeile eines bundesweit bekannten Boulevard-Blattes, das angeblich keiner liest, aber dessen
Inhalt doch jeder kennt. Ihre hohen Einschaltquoten generieren solche TV-Sendungen nicht zuletzt aus dem Umstand, dass die vorgeführten Phänomene dem Zuschauer merkwürdig bekannt vorkommen und ein Gefühl des »genauso-istes« erzeugen.
Die Sendungen führen genau jene kleinen Tyrannen vor, die zunehmend unser aller Leben bevölkern. Kinder, deren Erziehung vollkommen aus dem Ruder gelaufen zu sein scheint, die nichts mehr mit den »lieben Kleinen« gemein haben, die jeder Vater, jede Mutter sich einmal gewünscht hat.
Das Problem an der Sache ist: Ob Pseudo-Erziehung im Abendprogramm oder feinfühliges, aufwändiges Kümmern besorgter Eltern in den heimischen vier Wänden - all diese Versuche, des Problems Herr zu werden, sind so lange zum Scheitern verurteilt, wie wir einen der wichtigsten Bestandteile des Menschen dabei auÃer Acht lassen. Bewusst auÃer Acht lassen, weil wir glauben, er entwickele sich von ganz alleine und sei irgendwann automatisch voll ausgebildet: die Psyche.
Ich sehe in meiner Praxis tagtäglich Kinder und Jugendliche mit vielfältigen Störungen. Im Laufe meiner Tätigkeit als Kinderpsychiater haben sich bei der Analyse der auftretenden Störungen so gravierende Veränderungen ergeben, dass Anlass zu groÃer Sorge um die gesamtgesellschaftliche Zukunft gegeben ist. Immer weniger arbeits- und beziehungsfähige Jugendliche und Erwachsene werden die Folge sein, wenn sich weiterhin kein Bewusstsein für diese Störungen bildet.
Bei einem groÃen Teil dieser Kinder und Jugendlichen, die in allen Lebensbereichen Probleme verursachen, haben wir es nach meinem in langjähriger Beobachtung entwickelten Modell mit Menschen zu tun, deren psychischer Reifegrad
in etwa auf dem Niveau von maximal Dreijährigen stagniert. Anders gesagt: Diese Jugendlichen sind in einer frühkindlichen psychischen Phase fixiert, ihr körperliches und ihr psychisches Alter klaffen weit auseinander. Sie können dadurch keinerlei störungsfreie Beziehung zu ihrer Umwelt mehr aufbauen. Jeglicher Zugang zu ihnen scheint unmöglich geworden zu sein, sie terrorisieren ihre Umwelt mit einem inakzeptablen Verhalten und sind gegen Steuerungsversuche von auÃen absolut immun.
Mein Ansatz, der die psychische Entwicklung der Kinder in den Mittelpunkt rückt, ist die einzige Möglichkeit, diesen Trend sinnvoll zu analysieren und Strategien zu entwickeln, wie man ihm wirksam entgegentreten könnte. Das ist bisher nicht so gesehen worden, weil der Grundkonsens innerhalb der für Erziehung und Ausbildung wichtigen Teile der Gesellschaft auf Annahmen beruhte, die dieser Einschätzung zuwiderlaufen. Dieser Grundkonsens lässt sich anhand von drei grundsätzlichen Beziehungsstörungen zwischen Erwachsenen und Kindern beschreiben: der Partnerschaftlichkeit, der Projektion und der Symbiose.
Die fehlende Diskussion über die Annahmen und gesellschaftstheoretischen Meinungen, die hinter dem Konsens stehen, hat dazu geführt, dass bisher kaum Ansätze vorhanden sind, die über die Variation im Grunde immer gleicher pädagogischer Modelle
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