Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
Die Kleidungsstücke wurden nun jedoch der Mutter und den Bekannten der Verstorbenen vorgelegt und von diesen als jene bezeichnet, die sie bei ihrem Fortgehen von Hause getragen.
Inzwischen wuchs die Aufregung von Stunde zu Stunde. Mehrere Personen wurden festgenommen und wieder freigegeben. Besonders auf St. Eustache fiel der Verdacht, und er vermochte zunächst nicht, eine zufriedenstellende Erklärung über sein Tun und Lassen während des fraglichen Sonntags abzugeben. Später jedoch gab er Herrn G. eidlich Rechenschaft von jeder Stunde des Tages. Als die Zeit verging, ohne daß man irgend etwas entdeckte, zirkulierten wohl tausend einander widersprechende Gerüchte, und die Journalisten gaben die verschiedensten Mutmaßungen zum besten. Am meisten Aufsehen erregte eine davon, die dem Gedanken Raum gab, daß Marie Rogêt noch am Leben und die in der Seine gefundene Leiche diejenige einer andern Unglücklichen sei. Ich halte es für nötig, dem Leser einige Stellen, die ebendiese Vermutung dartun, zu übermitteln. Die betreffenden Stellen sind eine wörtliche Übersetzung aus dem »Etoile«, einem Blatt, das sehr geschickt geleitet wird.
»Fräulein Marie Rogêt verließ das Haus ihrer Mutter am 22. Juni 18 .., einem Sonntagmorgen, mit der ausgesprochenen Absicht, ihre Tante oder sonstige Bekannte in der Rue des Drômes aufzusuchen. Von dieser Stunde an hat sie erwiesenermaßen keiner mehr gesehen. Keine Spur war mehr von ihr zu finden, keine Nachricht zu erlangen ... Niemand hat sich bis jetzt gemeldet, der sie an jenem Tag, da sie von Hause fortgegangen, gesehen hätte ... Wenn es also auch nicht erwiesen ist, daß Marie Rogêt am Sonntag, dem 22. Juni, morgens nach neun Uhr noch unter den Lebenden weilte, so haben wir doch Beweise dafür, daß sie bis zu dieser Stunde noch lebte. Am Mittwochmittag entdeckte man in der Gegend der Barrière du Roule eine auf dem Wasser treibende Frauenleiche. Das waren also, selbst wenn wir voraussetzen, daß Marie Rogêt innerhalb drei Stunden nach Verlassen der mütterlichen Wohnung ins Wasser geworfen worden wäre, nur drei Tage, seit sie von Hause fortgegangen – genau drei Tage! Es ist aber Torheit, anzunehmen, daß der Mord – falls hier ein Mord vorliegt – früh genug ausgeführt werden konnte, um den Mördern zu ermöglichen, die Leiche vor Mitternacht in den Fluß zu werfen. Wer sich so scheußlicher Verbrechen schuldig macht, wählt die Nacht und nicht den Tag zu seiner Tat ... Wir sehen also, daß die gefundene Leiche, wenn sie diejenige der Marie Roget gewesen sein sollte, nur zwei und einen halben Tag, im Höchstfall drei Tage im Wasser gewesen sein kann. Die Erfahrung zeigt aber, daß Leichen Ertrunkener oder sofort nach dem Tod gewaltsam ins Wasser Geworfener sechs bis zehn Tage brauchen, ehe die Zersetzung eingetreten ist, die sie an die Oberfläche bringt. Selbst wenn man über einer unter Wasser ruhenden Leiche eine Kanone abfeuert und so das Steigen der ersteren vor dem fünften oder sechsten Tag veranlaßt, sinkt dieselbe wieder unter, sowie die Erschütterung vorbei ist. Wir fragen nun: weshalb sollte in diesem Fall ein Abweichen von der natürlichen Regel stattgefunden haben? ... Hätte die Leiche in ihrem verstümmelten Zustand bis Dienstag nacht an Land gelegen, so hätte man Spuren von den Mördern finden müssen; auch ist es höchst zweifelhaft, ob der Körper, selbst wenn er erst zwei Tage nach eingetretenem Tode ins Wasser geworfen worden wäre, so bald schon an der Oberfläche treiben kann. Und fernerhin ist es äußerst unwahrscheinlich, daß Kerle, die einen solchen Mord begangen, den Leichnam ins Wasser geworfen haben sollten, ohne ihn durch einen Ballast zum Sinken zu bringen, wo solche Vorsichtsmaßregel doch so leicht getroffen werden kann.«
Der Schreiber fährt nun fort, darzutun, daß der Körper »nicht drei, sondern mindestens fünfmal drei Tage« im Wasser gelegen haben muß, weil er so stark verwest war, daß Beauvais ihn nur mit Mühe identifizieren konnte. Dieser letzte Punkt wurde übrigens später völlig widerlegt. Ich fahre in der Übersetzung fort: »Worin bestehen nun die Tatsachen, auf Grund deren Herr Beauvais aussagt, die Leiche sei die der Marie Rogêt? Er riß den Kleiderärmel auf und sagt, er fand Zeichen, die ihn von der Identität überzeugten. Man hat allgemein angenommen, diese Zeichen hätten in irgendwelchen Narben oder Flecken bestanden. Er hatte den Arm gerieben und ihn behaart gefunden! Etwas Unbestimmteres
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