Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
von dem überragenden Gesträuch herabhing, dem Abhang eine seltsame, feierliche Düsterkeit verlieh. Die Windungen des Flusses wurden immer häufiger und geschwungener und schienen im Kreislauf wieder auf sich zurückzukommen, so daß der Reisende längst jede Vorstellung von der Richtung, die er verfolgte, verloren hatte. Überdies fühlte er sich immer tiefer in eine erlesene Empfindung von Seltsamkeit versinken. Noch hatte er das Gefühl, sich in der Natur zu befinden, doch schien ihr Wesen eine Veränderung erfahren zu haben. Aus diesem ihrem Werke sprach eine geheimnisvolle, feierliche Symmetrie, eine ergreifende Übereinstimmung, eine zauberhafte Eigentümlichkeit. Kein abgestorbener Zweig, kein welkes Blatt, kein verlorener Kieselstein, kein Klümpchen brauner Erde war irgendwo zu sehen. Das kristallhelle Wasser schwoll an dem glatten Granit und dem fleckenlosen Moos in so scharfer Linie empor, daß es das Auge zugleich verwirrte und entzückte. Wenn man nun einige Stunden den engen Wasserkanal entlanggeglitten war und die Düsterkeit der Landschaft mit jedem Augenblick zunahm, brachte eine unerwartete Biegung das Schiff plötzlich in ein kreisrundes, im Vergleich zu der Breite des Schlundes sehr großes Becken. Es hatte ungefähr zweihundert Ellen Durchmesser und war rings, ausgenommen an der Stelle, die dem Einfahrtspunkte gerade gegenüberlag, von Hügeln umgeben, die genau so hoch wie die Mauern, die sich am Fluß entlang erhoben, doch von ganz anderem Charakter waren. Vom Rande des Wassers an erhoben sie sich in einem Winkel von einigen vierzig Grad und waren ohne die geringste Unterbrechung von oben bis unten in das Gewand prächtigster Blüten gehüllt. Kaum ein grünes Blatt war in dieser Flut duftender, wallender Farben zu entdecken. Das Becken war sehr tief, das Wasser jedoch so durchsichtig, daß der Boden, der mit kleinen, runden, alabasterweißen Kieselsteinen über und über bedeckt lag, deutlich zu sehen war, das heißt, wenn man es übers Herz bringen konnte, einen Blick von dem Abbild der blühenden Hügel im Wasser zu verwenden. Auf ihnen wuchsen weder Bäume noch Gesträuch irgendwelcher Art. Dieser Anblick löste in dem Beschauer ein Gefühl von Reichtum, Wärme, Farbe, Ruhe, Einheitlichkeit, Güte, Zartheit, Anmut, Lust und einer zauberhaften Überkultur aus, die ihm Träume von einem unbekannten Stamme von Feen erregten, die fleißig, mit vollkommenstem Geschmack begabt, mächtig und prachtliebend sein mußten; doch wenn das Auge von der feinen Abschlußlinie am Wasser unten an dem tausendfarbigen Abhang entlang hinauf bis zu den Falten der überhängenden Wolken nach oben glitt, drängte sich einem unwillkürlich die Vorstellung eines weiten Kataraktes von Rubinen, Saphiren, Opalen und goldenen Onyxen auf, der sich schweigend in unaussprechlicher Pracht vom Himmel stürzte.
Der Besucher, der plötzlich aus der Finsternis der Schlucht in diese Bucht gelangt, sieht mit Entzücken und Erstaunen die volle Sonnenscheibe, die er längst hinter dem Horizont verschwunden glaubte, als einzige Grenze einer unermeßlichen Fernsicht durch eine andere wundersame Spalte in der Hügelkette. Hier verläßt der Reisende das Schiff, das ihn bisher getragen, und besteigt ein leichtes, elfenbeinernes Boot, das außen und innen mit Arabesken in lebhaftem Scharlach geziert ist. Der Schnabel und der Schwanz des Schiffes erheben sich hoch über dem Wasser und endigen in einer scharfen Spitze, so daß das Ganze die Form einer unregelmäßigen Sichel hat und mit der stolzen Anmut eines Schwanes auf dem hellen Spiegel ruht. Auf dem mit Hermelin bedeckten Boden liegt ein Ruder aus Atlasholz, aber kein Diener, kein Ruderer ist zu sehen. Der Gast braucht jedoch nicht den Mut zu verlieren: die guten Geister nehmen sich seiner an. Das größere Schiff verschwindet, und er bleibt allein in dem Boot zurück, das regungslos in der Mitte des Sees liegt. Doch während er darüber nachdenkt, welche Richtung einzuschlagen sei, empfindet er eine sanfte Bewegung der zauberhaften Barke. Sie kreist langsam um sich selbst, bis ihr Schnabel gegen die Sonne gerichtet ist. Mit sanfter, doch stetig zunehmender Geschwindigkeit gleitet sie vorwärts, während das leichte Gekräusel, das sie hervorruft, sich als himmlische Melodie an den Elfenbeinwänden zu brechen scheint – und so die einzig mögliche Erklärung für die süße, melancholische Musik abgibt, nach deren geheimnisvollem Ursprung sich der staunende Reisende vergeblich
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