Edith Wharton
nächsten Sonntag hier sein, dann können wir die Sache
regeln. Oder ich fahre mit dir nach Hepburn zum Friedensrichter, und wir
erledigen es dort. Ich tue alles, was du willst.« Er senkte die Augen unter dem
erbarmungslosen Blick, den sie noch immer auf ihn richtete, und trat nervös von
einem Fuß auf den anderen. Wie er da vor ihr stand, unbeholfen,
heruntergekommen, unordentlich, die Hände, die er auf den Schreibtisch stützte,
von blauroten Adern entstellt, während sein langes Rednerkinn von der
Anstrengung seines Geständnisses zitterte, wirkte er wie eine schreckliche
Karrikatur des väterlichen alten Mannes, den sie seit eh und je kannte.
»Dich heiraten? Ich?« Sie brach in
ein verächtliches Lachen aus. »War es das, was du mich neulich nachts fragen
wolltest? Was ist bloß in dich gefahren? Wie lange ist es her, daß du dich in
einem Spiegel angesehen hast?« Sie straffte sich in dem anmaßenden Bewußtsein
ihrer Jugend und Stärke. »Du denkst wohl, es ist billiger, mich zu heiraten,
als ein Dienstmädchen einzustellen. Jeder weiß, daß du der
geizigste Mensch in Eagle County bist; aber ich glaube nicht, daß du so noch
einmal eine kriegst, die dir die Socken stopft.«
Mr. Royall rührte sich nicht,
während sie sprach. Sein Gesicht war aschfahl, und seine schwarzen Augenbrauen
zuckten, als hätte ihn die Glut ihrer Verachtung geblendet. Als sie zu Ende
geredet hatte, hob er die Hand.
»Das reicht – ich glaube, das
reicht«, sagte er. Er wandte sich zur Tür und nahm seinen Hut vom Haken. Auf
der Schwelle blieb er stehen. »Man ist nicht fair zu mir gewesen – von Anfang
an ist man nicht fair zu mir gewesen«, sagte er. Dann ging er hinaus.
Ein paar Tage später erfuhr North
Dormer zur allgemeinen Überraschung, daß Charity mit einem Gehalt von acht
Dollar im Monat als Bibliothekarin bei der Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek
angestellt sei und daß die alte Verena Marsh aus dem Altenasyl in Creston
fortan bei Anwalt Royall wohne und für das Kochen sorge.
3
Mr. Royall empfing seine seltenen
Klienten nicht in dem Raum, den man im roten Haus als sein »Büro« bezeichnete.
Berufliche Würde und männliches Unabhängigkeitsstreben machten es
unumgänglich, daß er eine richtige Kanzlei unter einem anderen Dach hatte; und
seine Stellung als einziger Anwalt in North Dormer erforderte, daß sie sich
unter demselben Dach befand wie das Rathaus und das Postamt.
Er hatte die Gewohnheit, zweimal
täglich in diese Kanzlei zu gehen, am Morgen und am Nachmittag. Sie befand sich
im Erdgeschoß des Gebäudes und hatte einen separaten Eingang mit einem
verwitterten Namensschild an der Tür. Bevor er die Kanzlei betrat, ging er ins
Postamt, um nach seiner Post zu fragen – in der Regel ein fruchtloses Ritual –, sagte ein paar Worte zu dem Gemeindeangestellten, der auf der anderen Seite
des Korridors müßig herumsaß, und ging dann zu dem Laden an der
entgegengesetzten Ecke, wo Carrick Fry, der Inhaber, stets einen Stuhl für ihn
bereithielt und wo er damit rechnen konnte, ein, zwei Gemeinderäte anzutreffen,
die in der Atmosphäre aus Seilen, Leder, Teer und Kaffeebohnen an der langen
Theke lehnten. Mr. Royall,
zu Hause recht wortkarg, war in gewissen Stimmungen nicht abgeneigt, seinen
Mitbürgern seine Ansichten kundzutun; vielleicht wollte er auch nicht, daß
seine seltenen Klienten ihn dabei überraschten, wie er ohne Angestellte untätig
in seiner verstaubten Kanzlei saß. Jedenfalls war seine Arbeitszeit nicht viel
länger und auch nicht regelmäßiger als die von Charity in der Bibliothek; die
übrige Zeit verbrachte er entweder in dem Laden, oder er war in Geschäften
unterwegs, die in Zusammenhang mit den Versicherungsgesellschaften standen, die
er vertrat, oder er saß zu Hause und las Bancrofts »Geschichte der Vereinigten
Staaten« oder die Reden Daniel Websters.
Seit dem Tag, als Charity ihm
erklärt hatte, sie wolle die Nachfolgerin Eudora Skeffs werden, hatte sich ihre
Beziehung auf unbestimmbare, doch eindeutige Weise verändert. Anwalt Royall
hatte Wort gehalten. Er hatte die Stelle für sie durch ziemlich geschickte
Schachzüge erhalten, wie sie aus der Zahl der Konkurrentinnen und der
Verbitterung schloß, mit der zwei von ihnen, Orma Fry und das älteste der
Targatt-Mädchen, ihr beinahe ein Jahr danach noch begegneten. Und er hatte
Verena Marsh aus Creston hergeholt, damit sie das Kochen besorgte. Verena war
eine arme alte Witwe, tatterig und unbeholfen: Charity vermutete, daß sie
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