Edith Wharton
1
Ein Mädchen trat aus Anwalt Royalls Haus am
Ende der einzigen Straße von North Dormer und blieb davor stehen.
Es war ein früher Juninachmittag.
Der durchsichtige, frühlingshafte Himmel schüttete einen Regen silbriger
Sonnenstrahlen auf die Dächer des Dorfs und auf das Weideland und die
Lärchenwälder, die das Dorf umgaben. Ein sanfter Wind regte sich zwischen den
runden weißen Wolken auf den Schultern der Hügel und trieb ihre Schatten über
die Felder und den grasbewachsenen Weg hinunter, der dort, wo er durch North
Dormer führt, die Bezeichnung Straße annimmt. Der Ort liegt hoch und offen da,
und es fehlt ihm der Schatten, der in den geschützter gelegenen Dörfern Neuenglands
reichlich vorhanden ist. Die Gruppe Trauerweiden um den Ententeich und die
Rottannen vor dem Tor zum Anwesen der Hatchards sind nahezu die einzigen
Schattenspender an dem Stück Straße zwischen Anwalt Royalls Haus und der
Stelle am anderen Ende des Dorfs, wo die Straße oberhalb der Kirche ansteigt
und an der schwarzen Wand aus Schierlingstannen entlangführt, die den Friedhof
umgibt.
Der sanfte Juniwind kam die Straße
heruntergeweht, schüttelte die trübseligen Wipfel der Tannen vor dem Haus der
Hatchards, erfaßte den Strohhut eines jungen Mannes, der eben unter ihnen
entlangging, und wirbelte ihn geradewegs über die Straße in den Ententeich.
Während er hinüberrannte, um ihn
herauszufischen, stellte das junge Mädchen vor Anwalt Royalls Tür fest, daß es
sich um einen Fremden handelte, daß er städtische Kleidung trug und daß er
übers ganze Gesicht lachte, wie eben ein unbekümmerter junger Mensch über
derlei Mißgeschicke lacht.
Ihr Herz krampfte sich ein wenig
zusammen, und aus Scheu, die sie manchmal überkam, wenn sie Leute mit
Feiertagsgesichtern sah, zog sie sich ins Haus zurück und tat, als suche sie
nach dem Schlüssel, obwohl sie wußte, daß sie ihn bereits in ihre Tasche
gesteckt hatte. Im Flur hing ein hoher grünlicher Spiegel mit einem vergoldeten
Adler darüber, und sie betrachtete kritisch ihr Spiegelbild und wünschte sich
zum tausendsten Mal, sie hätte blaue Augen wie Annabel Balch, die manchmal aus
Springfield kam, um eine Woche bei der alten Miss Hatchard zu verbringen; dann
rückte sie den von der Sonne gebleichten Hut über ihrem kleinen braunen Gesicht
zurecht und ging wieder ins Sonnenlicht hinaus.
»Wie ich das alles hasse!« murmelte
sie.
Der junge Mann war durch das Tor der
Hatchards verschwunden, und sie hatte die Straße für sich allein. North Dormer
ist zu allen Zeiten ein öder Ort, und um drei Uhr an einem Juninachmittag sind
die wenigen ar beitsfähigen Männer draußen auf den Feldern oder im Wald, und
die Frauen sind drinnen und mühen sich lustlos mit dem Haushalt ab.
Das Mädchen ging die Straße entlang,
ließ den Schlüssel an ihrem Finger baumeln, und blickte mit jener erhöhten
Aufmerksamkeit um sich, die die Anwesenheit eines Fremden an einem vertrauten
Ort hervorruft. Welchen Eindruck, fragte sie sich, machte wohl North Dormer
auf Leute aus anderen Teilen der Welt? Sie wohnte dort, schon seit sie fünf
Jahre alt war, und hatte das Dorf lange für einen recht bedeutenden Ort
gehalten. Aber vor ungefähr einem Jahr hatte Mr. Miles, der neue Pfarrer der
Episkopalgemeinde in Hepburn, der jeden zweiten Sonntag herüberkam – wenn die
Wege nicht von Karrenspuren zerpflügt waren –, um in der Kirche von North
Dormer Gottesdienst abzuhalten, in einem Anfall missionarischen Eifers beschlossen,
die jungen Leute nach Nettleton zu einem Bildervortrag über das Heilige Land
mitzunehmen; und das Dutzend Mädchen und Jungen, das die Zukunft von North
Dormer verkörperte, war in einen Bauernwagen verfrachtet und über die Berge
nach Hepburn gefahren, in einen Bummelzug gesetzt und nach Nettleton gebracht
worden. Im Verlauf dieses unglaublichen Tages hatte Charity Royall zum ersten
und einzigen Mal eine Bahnfahrt erlebt, in Läden mit Schaufenstern geguckt
und Kokosnußtorte probiert, sie hatte in einem Theater gesessen und einem Herrn
zugehört, der unverständliche Dinge erzählte, begleitet von Bildern, die sie
sich mit Vergnügen angesehen hätte, wenn seine Erklärungen sie nicht gehindert
hätten, sie zu verstehen. Dieses Erlebnis hatte ihr bewußt gemacht, daß North
Dormer ein kleiner Ort war, und es hatte einen Wissensdurst in ihr geweckt, den
ihre Stellung als Betreuerin der Dorfbibliothek nicht hervorzurufen vermocht
hatte. Ein, zwei Monate lang vergrub sie sich
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