Edith Wharton
Abscheu die langen, schmuddeligen Bücherreihen, die
schafsnasige Minerva auf ihrem schwarzen Podest und das Bildnis des jungen
Mannes mit dem sanften Gesicht und dem hohen steifen Kragen, der über ihrem
Schreibtisch melancholisch ins Leere blickte. Sie hatte eigentlich ihren
Knäuel Spitze und das Verzeichnis der ausgeliehenen Bücher aus der Schublade
holen und sofort zu Miss Hatchard gehen wollen, um ihr
zu erklären, daß sie ihr Amt niederlege. Doch plötzlich überkam sie eine tiefe
Niedergeschlagenheit, und sie setzte sich und legte ihren Kopf auf den
Schreibtisch. Sie peinigte die grausamste Entdeckung, die man im Leben machen
kann: der erste Mensch, der aus der Wildnis auf sie zugekommen war, hatte ihr
Schmerz statt Freude gebracht. Sie weinte nicht; Tränen kamen ihr schwer, und
die Stürme ihres Herzens legten sich unbemerkt von anderen. Aber als sie so in
ihrem dumpfem Schmerz dasaß, empfand sie ihr Leben als allzu trostlos, allzu
häßlich und unerträglich.
»Was habe ich denn dem Leben getan,
daß es mir so wehtut?« stöhnte sie und preßte ihre Fäuste gegen die Lider, die
von verhaltenen Tränen schwollen.
»Ich will nicht – ich will nicht
dort hingehen und wie ein Scheusal aussehen«, murmelte sie, sprang auf und
strich sich das Haar zurück, als ob es sie ersticke. Sie öffnete die Schublade,
zerrte das Verzeichnis heraus und wandte sich zur Tür. In diesem Augenblick
ging sie auf, und der junge Cousin von Miss Hatchard trat pfeifend ein.
4
Er blieb stehen und lüftete mit einem scheuen
Lächeln den Hut. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich dachte, es sei niemand da.«
Charity stellte sich vor ihn hin und versperrte ihm den Weg. »Sie können nicht
hereinkommen. Die Bibliothek ist mittwochs für das Publikum nicht geöffnet.«
»Das weiß ich; aber meine Cousine
hat mir ihren Schlüssel gegeben.«
»Miss Hatchard hat nicht das Recht,
ihren Schlüssel an andere Leute weiterzugeben, genausowenig wie ich. Ich bin
die Bibliothekarin und kenne die Vorschriften. Das ist meine Bibliothek.«
Der junge Mann wirkte
außerordentlich überrascht. »Natürlich, das weiß ich; es tut mir sehr leid,
wenn es Sie stört, daß ich gekommen bin.«
»Vermutlich sind Sie gekommen, um
nachzusehen, was Sie noch alles sagen könnten, um Miss Hatchard gegen mich
aufzubringen. Aber Sie brauchen sich nicht zu bemühen: heute ist es noch meine
Bibliothek, aber morgen um die gleiche Zeit ist sie es nicht mehr. Ich bin
gerade dabei, ihr den Schlüssel und das Ausleihverzeichnis zurückzubringen.«
Das Gesicht des jungen Harney wurde
ernst, ohne jedoch das Schuldbewußtsein zu verraten, das Charity erwartet
hatte.
»Ich verstehe nicht«, sagte er. »Da
muß irgendein Irrtum vorliegen. Warum sollte ich zu Miss Hatchard etwas Nachteiliges
über Sie sagen – oder zu irgend jemandem sonst?«
Er wich in seiner Antwort so
offenkundig aus, daß Charity mit ihrer Entrüstung nicht mehr an sich halten
konnte. »Woher soll ich das wissen? Ich könnte verstehen, wenn Orma Fry es
getan hätte, denn sie hat mich schon immer hier rausekeln wollen, schon vom
ersten Tage an. Ich versteh' zwar nicht, warum, wo sie ein Zuhause hat und
einen Vater, der für sie sorgt; auch bei Ida Targatt versteh' ich's nicht, wo
sie erst letztes Jahr ihren Stiefbruder beerbt hat. Aber schließlich leben wir
alle am selben Ort, und bei einem Dorf wie North Dormer reicht es schon, daß
man jeden Tag dieselbe Straße entlanggehen muß, damit die Leute sich
gegenseitig nicht ausstehen können. Aber Sie leben nicht hier, und Sie haben
von uns allen keine Ahnung, was mußten Sie sich also einmischen? Glauben Sie,
die anderen Mädchen hätten die Bücher besser in Ordnung gehalten als ich? Orma
Fry kann ja kaum ein Buch von einem Bügeleisen unterscheiden! Und was ist schon
dabei, wenn ich nicht dauernd hier herumsitze, ohne was zu tun, bis es oben an
der Kirche fünf schlägt? Wen kümmert es, ob die Bibliothek offen oder zu ist?
Meinen Sie, hier kommt überhaupt mal jemand um Bücher her? Sie würden gern
herkommen, um sich mit den Burschen zu treffen, mit denen sie gehen – wenn ich es
zuließe. Aber ich laß Bill Solas von der anderen Seite des Hügels nicht hier
herumhängen und auf die jüngste von den Targatts warten, denn ich kenne ihn
... das ist alles ... auch wenn ich nicht so viel über Bücher weiß, wie ich
wissen sollte ...«
Sie spürte einen Kloß in der Kehle
und hielt inne. Vor Zorn bebend lehnte sie sich haltsuchend gegen
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