Edith Wharton
Wunsch ergriffen, von dort wegzukommen, stand auf und hielt ihr
einen der Scheine hin.
»Wollen Sie das?« fragte sie.
»Nein, das will ich nicht, meine
Liebe; aber ich will es zusammen mit seinem Gefährten, und ich gebe Ihnen auch
eine Quittung, wenn Sie mir nicht trauen.«
»Oh, aber ich kann nicht – es ist
alles, was ich habe«, rief Charity aus. Dr. Merkle sah von dem Plüschsofa
freundlich zu ihr auf. »Sie haben anscheinend gestern geheiratet, oben in der
Episkopalkirche; ich habe alles darüber vom Hausknecht des Pfarrers erfahren.
Es wäre doch bedauerlich, nicht wahr, wenn Mr. Royall erfahren würde, daß Sie
bei mir eine Rechnung offen hatten? Ich sag's Ihnen nur so, wie es Ihre eigene
Mutter täte.«
Zorn flammte in Charity auf, und
einen Moment lang dachte sie daran, auf die Brosche zu verzichten und Dr.
Merkle ihren Willen zu lassen. Aber wie konnte sie ihren einzigen Schatz bei
diesem bösen Weib lassen? Sie wollte ihn für ihr Kind: auf irgendeine
mysteriöse Weise, meinte sie, stelle er ein Band zwischen Harneys Kind und
seinem Vater dar, den es nie kennen würde. Zitternd und voller Haß auf sich
selbst legte sie Mr. Royalls Geld auf den Tisch, ergriff die Brosche und
flüchtete aus dem Zimmer und aus dem Haus ...
Auf der Straße blieb sie stehen,
betäubt von diesem letzten Abenteuer. Aber die Brosche lag wie ein Talisman an
ihrem Busen, und sie fühlte insgeheim eine Leichtigkeit ums Herz. Sie gab ihr
nach einer Weile die Kraft, langsam in Richtung Postamt und durch die Pendeltüren
hineinzugehen. An einem der Schalter kaufte sie ein Blatt Briefpapier, einen
Umschlag und eine Briefmarke; dann setzte sie sich an einen Tisch und tauchte
den rostigen Postfederhalter in die Tinte. Sie war hierhergekommen, besessen
von einer Furcht, die sie verfolgt hatte, seit sie Mr. Royalls Ring an ihrem Finger
spürte: der Furcht, Harney könnte sich schließlich doch von seiner Bindung
freimachen und zu ihr zurückkehren. Es war eine Möglichkeit, die ihr in den
schrecklichen Stunden nach der Ankunft seines Briefs nie in den Sinn gekommen
war; erst als der entscheidende Schritt, den sie getan, die Sehnsucht in Angst
verwandelt hatte, erschien diese Möglichkeit vorstellbar. Sie adressierte den
Umschlag, und auf das Blatt Papier schrieb sie:
Ich bin mit Mr. Royall verheiratet.
Ich werde dich nie vergessen.
Charity
Die letzten Worte hatte sie überhaupt nicht schreiben
wollen; sie waren ihr unwillkürlich aus der Feder geflossen. Sie hatte nicht
die Kraft gehabt, ihr Opfer zu vollenden; aber was machte es letztlich schon
aus? Warum sollte sie Harney nicht die Wahrheit sagen, nun, da es keine
Möglichkeit mehr gab, ihn jemals wiederzusehen?
Als sie den Brief in den Kasten
gesteckt hatte, ging sie hinaus auf die geschäftige, sonnenbeschienene Straße
und machte sich auf den Weg zum Hotel. Hinter den Schaufensterscheiben der
Warenhäuser bemerkte sie die verführerischen Auslagen von Kleidern und Kleiderstoffen,
die ihre Phantasie an jenem Tag beflügelt hatten, als sie und Harney sie sich
gemeinsam betrachtet hatten. Ihr fiel Mr. Royalls Aufforderung wieder ein, in
die Stadt zu gehen und sich alles, was sie brauche, zu kaufen. Sie sah an
ihrem schäbigen Kleid hinunter und überlegte, was sie ihm sagen sollte, wenn
er sie mit leeren Händen zurückkommen sähe. Als sie sich dem Hotel näherte, sah sie ihn auf
der Treppe warten, und ihr Herz begann vor Aufregung zu klopfen.
Er nickte ihr zu und winkte, als sie
näher kam, und sie gingen durch die Halle und nach oben, um ihre Sachen zu
packen, damit Mr. Royall den Zimmerschlüssel abgeben könnte, wenn sie zum
Mittagessen wieder herunterkämen. Als sie im Schlafzimmer die paar Dinge in
die Segeltuchtasche stopfte, fühlte sie plötzlich, wie sein Blick auf ihr
ruhte. Sie hielt inne, ihr halb zusammengefaltetes Nachthemd in der Hand,
während ihr das Blut in die mageren Wangen stieg.
»Nun, hast du dich hübsch
ausstaffiert? Ich seh' gar keine Pakete herumliegen«, sagte er scherzend.
»Oh, ich lasse lieber Ally Hawes die
paar Sachen nähen, die ich brauche«, antwortete sie.
»Ah so?« Er sah sie einen Augenblick
nachdenklich an, und seine Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Dann wurde
sein Gesicht wieder freundlich. »Na ja, ich wollte, daß du eleganter als alle
anderen heimkämst; aber du hast wohl recht. Du bist ein gutes Mädchen,
Charity .«
Ihre Augen trafen sich, und etwas
trat in seine, was sie dort noch nie gesehen hatte: ein Blick, durch
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