Edith Wharton
einem
fächerförmigen Spalier, die Mr. Royall einmal von Hepburn mitgebracht hatte, um
ihr eine Freude zu machen. Hinter dem Haus erstreckte sich ein Stück unebenes
Gelände mit quer darüber gespannten Wäscheleinen bis zu einer Trockenmauer,
und hinter der Mauer verloren sich ein kleiner Getreideacker und ein paar
Reihen Kartoffeln in der angrenzenden Wildnis aus Fels und Farn.
Charity konnte sich nicht entsinnen,
wann sie das Haus zum erstenmal gesehen hatte. Man hatte ihr erzählt, daß sie
an einem Fieber gelitten habe, als sie vom Berg heruntergeholt worden war; und
sie konnte sich nur daran erinnern, daß sie eines Tages in einem Kinderbett am
Fuße von Mrs. Royalls Bett aufgewacht war und das nüchterne, ordentlich
aufgeräumte Zimmer erblickt hatte, das später ihr eigenes werden sollte.
Mrs. Royall starb sieben oder acht
Jahre später; zu der Zeit hatte Charity bereits das meiste von dem, was um sie
herum vorging, einzuschätzen gelernt. Sie wußte, daß Mrs. Royall traurig, scheu
und labil war; sie wußte, daß Anwalt Royall schroff, jähzornig und noch labiler
war. Sie wußte, daß man sie auf den Namen Charity getauft hatte (in der weißen
Kirche am anderen Ende des Dorfes), zum Andenken daran, wie uneigennützig es
von Mr. Royall gewesen war, sie »herunterzuholen«, und um in ihr das
geziemende Gefühl von Abhängigkeit wachzuhalten; sie wußte, daß Mr. Royall ihr
Vormund war, daß er sie aber nicht adoptiert hatte, obwohl jedermann von ihr
als Charity Royall sprach; und sie wußte, warum er nach North Dormer
zurückgekehrt war, anstatt in Nettleton eine Kanzlei zu betreiben, wo seine
juristische Laufbahn begann.
Nach Mrs. Royalls Tod hieß es vage,
Charity solle in ein Pensionat geschickt werden. Miss Hatchard machte den
Vorschlag und führte eine lange Unterredung mit Mr. Royall, der, um ihren Plan
zu verfolgen, eines Tages nach Starkfield fuhr, um das Institut zu besichtigen,
das sie empfohlen hatte. Er kam am folgenden Abend mit finsterem Gesicht zurück – finsterer, stellte Charity fest, als sie ihn je zuvor erlebt hatte; und zu
der Zeit hatte sie schon einige Erfahrung mit ihm.
Als sie ihn fragte, wie bald sie
denn dort anfangen solle, erwiderte er kurz angebunden: »Du gehst nicht« und
schloß sich in dem Zimmer ein, das er sein Büro nannte; und am nächsten Tag
schrieb die Dame, die die Schule in Starkfield leitete, daß sie »in Anbetracht
der Umstände« derzeit leider keine neue Schülerin aufnehmen könne.
Charity war enttäuscht, aber sie
begriff. Nicht die Versuchungen von Starkfield hatten Mr. Royall von seinen Plänen abgebracht; es war die
Vorstellung, sie zu verlieren. Er war ein entsetzlich »einsamer Mensch«; das
hatte sie herausgefunden, weil sie selbst so »einsam« war. Er und sie, allein
miteinander in diesem traurigen Haus, hatten die Tiefen der Einsamkeit ausgelotet;
und obwohl sie ihm gegenüber keine besondere Zuneigung und nicht die geringste
Dankbarkeit empfand, tat er ihr leid, weil sie wußte, daß er den Leuten um sich
herum überlegen, und daß sie das einzige Wesen zwischen ihm und der Einsamkeit
war. Und als Miss Hatchard ein oder zwei Tage später Charity holen ließ, um mit
ihr über eine Schule in Nettleton zu sprechen und ihr zu sagen, diesmal werde
eine Freundin von ihr »die notwendigen Schritte einleiten«, unterbrach Charity
ihre Ankündigung und erklärte, sie habe beschlossen, North Dormer nicht zu
verlassen.
Miss Hatchard redete ihr freundlich
zu, doch es nutzte nichts; Charity wiederholte schlicht: »Ich glaube, Mr.
Royall ist zu einsam.«
Miss Hatchard blinzelte verwirrt
hinter ihren Brillengläsern. Ihr langes zartes Gesicht war voller verdutzter
Falten, und sie beugte sich vor, die Hände auf den Armlehnen ihres
Mahagonisessels, offensichtlich bestrebt, etwas zu sagen, was gesagt werden
müßte.
»Dieses Gefühl ehrt dich, meine
Liebe.«
Ihr Blick
irrte auf den blassen Wänden ihres Wohnzimmers herum und suchte Rat bei den
Daguerreotypien ihrer Ahnen und den gerahmten Sticktüchern; aber sie schienen
ihr das Sprechen nur noch schwerer zu machen.
»Weißt du ... es ist nicht nur ...
nicht nur wegen der Vorteile. Es gibt noch andere Gründe. Du bist zu jung, um
zu verstehen ...«
»0 nein, das bin ich nicht«, sagte
Charity schroff, und Miss Hatchard errötete bis zu den Wurzeln ihres blonden Haars. Doch muß sie eine
unbestimmte Erleichterung darüber empfunden haben, daß ihre Erklärung unterbrochen worden war, denn
sie beendete das
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