Ehrenhüter
die Haustür zuging.
Es war Montagnachmittag. Jetzt würde alles gut werden. Ein Strahlen legte sich auf Nilgüns Gesicht. Doch es erstarb, als die Tür mit einem Ruck aufging. Vor Verblüffung bekam Nilgün kein Wort heraus.
«Hallo. Schön, dich mal wieder zu sehen, Nilgün. Komm rein.»
Romans Vater sah sie mit einem offenen Lächeln an, deutete eine Verbeugung an und machte eine einladende Handbewegung.
Nilgün zögerte.
Sie sollte umkehren. Irgendetwas musste dazwischengekommen sein. Etwas Wichtiges. Noch nie in den vergangenen Monaten war ihre Verabredung am Montagnachmittag geplatzt. Es würde auch diesmal klappen. Sicher gab es nur eine kleine Verzögerung.
Wie zur Bestätigung sagte der Mann freundlich: «Roman kommt sicher gleich. Er muss nur seine Mutter mit dem Taxi vom Zahnarzt abholen. Meine Frau fühlte sich nach der Behandlung etwas wackelig.»
Nilgün machte noch immer keine Anstalten, etwas zu sagen. Was auch? Dass gerade heute jede Minute so kostbar sei, dass der Mann seinen Sohn anrufen und Roman sofort kommen müsse? Nein, sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren.
«Das tut mir leid für Ihre Frau», brachte Nilgün mühsam heraus.
Romans Vater zuckte unbekümmert mit den Schultern: «Ich glaube, es ist halb so schlimm. Ich hätte sie auch selbst abgeholt, aber ich warte auf einen dringenden Anruf. Komm doch rein, ich hab gerade einen Tee gekocht. Trinkst du einen mit?»
Nilgün sah sich noch einmal um. Niemand war auf der Straße. Auch die beiden Frauen, die sich auf dem Bürgersteig unterhalten hatten, waren verschwunden.
Sie befahl sich, ins Haus zu gehen. Sie durfte nicht unhöflich sein. Er meinte es nett. Bei den Deutschen herrschten andere Regeln als in ihrer Familie. Undenkbar, dass ihr Vater ein fremdes Mädchen zu einer Tasse Tee in seine Wohnung einladen würde. Ein Mann und ein Mädchen allein in einer Wohnung! Keine ihrer Freundinnen würde so etwas wagen. Aber auch keiner der türkischen Väter, die sie kannte, würde eine Freundin seiner Tochter bewirten.
Nilgün versuchte zu lächeln. Sie und Roman würden nachher reden. Sie musste nur noch wenige Minuten warten.
Romans Vater nahm ihr die Jacke ab und zeigte auf die mit einem tiefroten Teppich ausgelegte Treppe, die zu Romans Zimmer hinaufführte. «Tee und etwas Gebäck stehen in meinem Arbeitszimmer im ersten Stock. Wenn es dir nichts ausmacht, geh doch schon mal vor. Ich hol nur noch schnell eine Tasse für dich.»
Gleich würde er kommen. Dann würden sie eine Lösung finden. Alles würde gut werden.
Erleichtert ging Nilgün die Treppe hinauf.
02
Navideh Petersen zwang sich ruhig zu bleiben. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie nun schon vor dem Käsewagen auf dem kleinen Bauernmarkt im Steintor. Unruhig schaute sie auf ihre Uhr. Aber der Kunde vor ihr schien sie gar nicht wahrzunehmen. Genüsslich probierte er sich vom Appenzeller bis zum Ziegen-Gouda durch das reiche Angebot. Das eine oder andere Stück ließ er sich einpacken, aber die meisten Käsesorten fand er entweder zu mild oder zu würzig.
«Dürfte ich den Ziegenkäse noch einmal probieren?» Der Mann deutete auf ein Stück am untersten Ende der Auslage. Vergeblich beugte sich die Verkäuferin vor, um an den Käse heranzukommen. So sehr sie sich auch streckte, sie kriegte die gewünschte Ziegenrolle nicht zu fassen. «Dafür bin ich zu klein. Da muss ich mal eben zu Ihnen rauskommen und die Glasscheibe öffnen», kündigte sie fröhlich an.
Navideh Petersen stieß einen stummen Fluch aus. In einer halben Stunde musste sie ihren Dienst im Polizeipräsidium in der Vahr antreten. Wenn sie schnell fuhr und auf ihrem Rad die Ampeln auch mal bei Tiefgelb nahm, würde sie es in 20 Minuten schaffen. In Gedanken ging sie ihre Einkaufsliste durch. Die Lebensmittel fürs Wochenende und die Zutaten für das geplante Abendessen hatte sie bereits eingekauft. Nur der Bio-Käse für den Nachtisch fehlte noch.
Die Verkäuferin war inzwischen wieder in ihren Wagenzurückgekehrt. Umständlich packte sie den Käse in aller Seelenruhe in ein Stück Wachspapier ein. «Darf es noch etwas sein?», wandte sie sich wieder an ihren Kunden.
Navideh Petersen bedachte die junge Frau mit einem empörten Blick.
Der Mann zögerte und vertiefte sich erneut in die Auslage. Doch offenbar fand er nicht, wonach er suchte. «Haben Sie auch Bio-Eier?»
«Ja, vom Wörtedammhof im St.-Jürgensland.»
«Und wann war Legezeit?»
«Warten Sie, da muss ich mal eben gucken.»
Der
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