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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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Das erste Mal hatte der Vater den Mund zusammengepresst und das Telefon wortlos an seinen Ältesten weitergereicht. Murat tat so, als bemerke er den Widerwillen seines Vaters nicht. Er konnte es sich leisten. Er war der Erstgeborene. Dann kamen Osman, Nilgün und schließlich ihre kleine Schwester Saliha.
    Nilgün war die Einzige aus ihrer früheren Grundschulklasse,die den Sprung auf eines der Bremer Innenstadt-Gymnasien schaffte. Und sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, sich gegen ihre deutschen Mitschüler zu behaupten.
    Ihre
Anne
bewunderte sie dafür, wie sie sich durch die vielen Bücher in ihrem Zimmer «hindurchfraß». Ja, das war das Wort, das ihre Mutter immer benutzte: «Du frisst die vielen Wörter in dich hinein.» Sie selbst hatte erst in Deutschland lesen und schreiben gelernt. Ihr Vater hatte sie nie in die Schule geschickt. Denn es stand von Anfang an fest, dass sie mit 14 den fünf Jahre älteren Cousin Kemal heiraten würde. Und so war Nilgüns Mutter zu Hause geblieben, anstatt zur Schule zu gehen, und hatte sich auf ihre Pflichten als Ehefrau vorbereitet. Sie lernte kochen und das Feld bestellen und vor allem – gehorchen. Gehorsam, so meinte ihr Vater, lernte sie am besten zu Hause.
    Aber Besma war wissbegierig. Eine Cousine brachte ihr am späten Nachmittag, wenn sie aus der Schule kam, während der Feldarbeit die ersten Buchstaben und das Rechnen bei. Heimlich natürlich.
    Doch richtig schreiben lernte Nilgüns Mutter erst Jahre später in Deutschland.
    «Großartig» hatte die Deutschlehrerin unter das erste fehlerfreie kleine Diktat geschrieben. Besma zeigte es den Kindern mittags voller Stolz und machte ihnen ohne viele Worte klar, dass sie sich Ähnliches von ihnen erhoffte. Besonders von ihren Mädchen, Nilgün und Saliha.
    «Das Wissen wird euch schützen», wiederholte sie immer wieder. Nilgün fragte nie, was die Mutter damit meinte. Sie verstand auch so. Und sie wurde eine gute Schülerin. Die beste in ihrer Grundschulklasse. Und jetzt ging sie als Erste in der Familie aufs Gymnasium.
    Noch immer spürte Nilgün den flüchtigen Kuss ihrerMutter auf den Haaren. Sie hatte ihre
Anne
, wie sie die Mutter häufig auf Türkisch nannten, verraten. Ihren Vater, ihre Brüder, ihre kleine Schwester Saliha, aber vor allem die Mutter. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie würde weiter lernen, jetzt erst recht.
    Am Hauptbahnhof stieg Nilgün um. Sie musste nicht lange auf ihre Anschlussbahn warten. Minuten später kam sie zur Haltestelle ihrer Schule. Doch Nilgün blieb sitzen und fuhr an dem Gebäude vorbei. Die Chemie-AG würde heute ohne sie stattfinden. So wie seit einem Dreivierteljahr. Niemand würde ihr Fehlen bemerken, denn sie hatte sich nie in der Arbeitsgruppe angemeldet.
     
    Zwei Stationen später stieg Nilgün aus. Sie schaute sich einmal flüchtig um und bog nach wenigen Metern von der Hauptstraße in eine gepflegte Wohnstraße ein. Kleine, liebevoll bepflanzte Grünstreifen trennten Radweg und Bürgersteig. Die großen Einfamilienhäuser stammten aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts. In Nilgüns Augen glichen sie herrschaftlichen Wohnsitzen. Jedes Kind hatte ein eigenes Zimmer. Manche sogar ein eigenes Bad. Nilgün dagegen teilte sich ihr Zimmer mit Saliha. Bevor sie die Welt ihrer deutschen Mitschüler vom Gymnasium kennenlernte, hätte sie sich so viel Platz für ein einzelnes Kind nicht vorstellen können. Ihre türkischen Freundinnen schliefen alle mit ihren Geschwistern in einem Zimmer. Eine Bekannte hatte ihren Schlafplatz sogar jahrelang hinter einem Vorhang in einer Ecke des Wohnzimmers gehabt. Nilgün beneidete sie damals um diesen Platz, weil sie bis spätabends heimlich mit fernsehen konnte.
    Nilgün ging an zwei Frauen vorbei, die von ihren Rädern abgestiegen waren und sich angeregt unterhielten. DieStraße machte einen kleinen Bogen, dann sah sie endlich die große Magnolie vor dem Hauseingang. Ihr Herz begann heftiger zu schlagen. Wie jeden Montag. Sie hatte eine SMS geschrieben, um ihr Kommen anzukündigen. Endlich würden sie reden können. Endlich könnte Nilgün ihre Gedanken und Ängste mit jemandem teilen. Hier war sie sicher.
    Mit großen Schritten nahm sie die Sandsteintreppe und drückte auf die Klingel. Ungeduldig wartete sie darauf, dass sich jemand der Tür näherte. Doch im Haus blieb alles ruhig. Nilgün drückte erneut auf den Klingelknopf. Irgendwo im Haus wurde eine Tür geöffnet. Sie hörte, wie jemand aus der Küche über das Parkett auf

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