Ehrenhüter
schwereinschätzen. Ihre deutsche Freundin Lena lebte bei ihrer Mutter, einer zänkischen, nervösen Frau. Saliha konnte sich nicht vorstellen, dass sie bereit wäre, sich unnötig weiteren Ärger aufzuladen.
Plötzlich kam ihr die Polizistin in den Sinn. ‹Sie ist Ausländerin, so wie ich›, dachte Saliha. Die Frau mit den langen, schwarzen Haaren und der warmen Stimme hatte Ruhe und Selbstbewusstsein ausgestrahlt. ‹Sie würde verstehen, was ich tue›, dachte Saliha. Aber die Frau war Polizistin. In Salihas Verwandtschaft wurden Probleme seit jeher ohne Polizei gelöst. Uniformierten ging man besser aus dem Weg. Man konnte ihnen nicht trauen. So war es in der Türkei, und so war es auch in Deutschland. Das hatte Saliha immer wieder gehört. Aber die Iranerin mit dem nordischen Namen war ihr irgendwie sympathisch. Doch Saliha wusste auch, dass Polizisten für Recht und Ordnung standen. Und war es nicht das Recht eines Vaters, für seine Tochter zu entscheiden?
Sie verwarf den Gedanken an die freundliche Polizistin und suchte verzweifelt nach einem anderen Menschen in ihrem Bekanntenkreis, dem sie sich anvertrauen konnte.
Plötzlich kam Saliha ihre Klassenlehrerin Hanna Tietjen in den Sinn. Sie hatte Saliha in der Schule beiseite genommen und sie überraschend in den Arm genommen, als sie ihr ihr Beileid aussprach. Dabei hatte sie Tränen in den Augen gehabt. «Wenn ich dir in den kommenden Monaten irgendwie helfen kann, dann sag es mir», hatte sie ihre Schülerin aufgefordert.
Saliha sprang auf. Nie hatte sie ihre Klassenlehrerin mehr gebraucht als jetzt. Entschlossen fuhr sie in Richtung Findorff. Sie wusste zwar nicht mehr, wie die Straße hieß, in der Hanna Tietjen wohnte, aber sie kannte den Weg dorthin. Erst vor wenigen Wochen hatte sie eine Hausarbeit, mit dersie nicht rechtzeitig fertig geworden war, nachmittags bei der Lehrerin abgegeben.
In der Findorffallee direkt am Park musste Saliha sich kurz orientieren. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie überquerte eine Brücke des Torfkanals, auf dem die Bauern aus dem Teufelsmoor früher ihre Ware nach Bremen gebracht hatten, und bog in die Chemnitzer Straße ein. In einem dieser gepflegten alten Häuser wohnte Frau Tietjen. Erleichtert erkannte Saliha das blau gestrichene Haus mit dem großen Wintergarten und dem weiß abgesetzten Stuck an der Fassade wieder. Endlich. Frau Tietjen würde sie verstehen. Mit drei Sätzen war sie an der Tür und klingelte. Erwartungsvoll lauschte sie auf die Schritte ihrer Lehrerin. Die Sekunden vergingen.
Saliha klingelte ein zweites Mal. Diesmal drückte sie länger auf den Knopf. Aber im Haus blieb es still. Saliha hatte längst begriffen, dass niemand zu Hause war. Aber da sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte, blieb sie einfach vor der Tür stehen. Irgendwann würde ihre Lehrerin schon wiederkommen.
Nach einer Stunde begann Saliha zu frieren. Als es auch noch anfing zu regnen, packte sie die Verzweiflung.
Wohin sollte sie bloß gehen?
Saliha öffnete ihre Tasche, um nach einem wärmeren Pullover zu suchen. Der Kopf der kleinen Stoffgiraffe lugte zwischen den Kleidungsstücken hervor. Und plötzlich wusste Saliha, was sie tun musste.
Ohne Nilgün hätte sie nie den Mut gehabt, dem Unausweichlichen zu entfliehen. Nun schien ihre Schwester sie selbst über den Tod hinaus zu leiten. War sie nicht auch in höchster Not gewesen? Nilgün hatte sofort gewusst, an wensie sich wenden konnte. Es war Schicksal gewesen, dass sie sich nur um wenige Minuten verpasst hatten und sie irgendwann in den darauffolgenden Stunden ihrem Mörder in die Arme gelaufen war.
Saliha schüttelte über sich selbst den Kopf. Warum war sie nicht früher darauf gekommen?
Mit neuem Mut stieg sie wieder aufs Rad.
Eine Viertelstunde später lehnte sie ihr Rad an einen Baum und ging unter den Ästen einer alten Magnolie hindurch in einen Vorgarten. In dem Haus am Ende des Weges brannte Licht im ersten Stock.
Nilgün hatte Roman geliebt. Und auch seine Eltern hatten sie von Anfang an gemocht. Sie waren wohlhabend und gebildet. Sie kannten keine Welt, in der Töchter verachtet wurden, nur weil sie dasselbe für sich in Anspruch nahmen wie die Söhne. Sie lebten ohne den gefährlichen Beigeschmack der Ehre. Sie waren frei, frei zu tun, was sie für richtig hielten.
Wenn ihr jemand helfen konnte, dann Roman und seine Eltern.
Saliha brauchte nur einmal zu klingeln, dann ging die Tür auf. Roman stand vor ihr und starrte sie an. Er sah
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