Ehrenhüter
versuchte Saliha, sie zu sortieren. In dem Wohnhaus mit den vielen Kindern war immer etwas los. Aber gerade schien niemand im Treppenhaus zu sein. Ohne einen weiteren Blick zurück, lief Saliha die Stufen hinunter. Wenn alles gutging, hatte sie noch fünf Minuten, bis Osman mit der Straßenbahn ankam. Sie würde auf ihr Rad springen und in die entgegengesetzte Richtung davonfahren. Wohin, wusste sie nicht. Noch nicht. Ein Plan brauchte Zeit, um zu reifen. Saliha hatte nur einen festen Entschluss, der sie leitete: Sie würde nicht für die Ehre ihres Vaters in Dicle alt werden.
Saliha war schon auf dem Absatz des ersten Stockwerkes angekommen, als sie die Bosnierin hörte. Die Frau kam gemeinsam mit einer anderen Person ins Haus. Ihre Stimme klang ernst und mitfühlend. Saliha hörte nur ein paar Wortfetzen, aber es war genug, um zu wissen, dass sie verloren war: «Danke, ich werde es meinem Vater ausrichten», sagte Osman und ging an der Bosnierin vorbei zur Treppe.
Saliha fühlte sich wie ein Ballon, aus dem plötzlich alle Luft entwich. Kraftlos ließ sie die Tasche fallen. Im selben Moment ging die Wohnungstür neben ihr auf, und einKind der irakischen Familie rannte kreischend an ihr vorbei in Richtung Keller. Ein anderes wählte den Weg in die obere Etage, wo es sich hinter zwei längst vergessenen Umzugskartons im Hausflur versteckte. Sie hörte, wie ein Junge in der Wohnung zählte. Dann schrie er laut auf Deutsch: «Ich komme.»
Offenbar spielten noch mehr Kinder mit. Saliha schlüpfte in die Wohnung, blinzelte dem Jungen zu und flüsterte: «Ich helfe dir suchen.»
Das Kind nickte begeistert. Saliha tat, als schaue sie gründlich im Bad der fremden Wohnung nach versteckten Kindern. Dabei lauschte sie angestrengt, ob Osman schon an der Wohnung der Iraker vorbeigegangen war. Sie hatte keine Sekunde zu verlieren. Osman hatte ihr schließlich befohlen, nachmittags zu Hause zu sein. Wenn sie nicht da wäre, würde er misstrauisch werden. Plötzlich fiel es Saliha siedend heiß ein: die Sportsachen auf dem Bett! Ihr Bruder wusste, sie ließ nie etwas liegen und hielt stets eine fast pedantische Ordnung in ihrem Zimmer. Osman würde sofort wissen, dass etwas nicht stimmte.
Jetzt hörte sie Osmans gereizte Stimme eine Etage über ihr. «Hau ab. Spiel woanders!»
Das war ihre Chance!
«Im Bad ist niemand. Ich schaue schnell im Keller nach», sagte Saliha leise zu dem Jungen und huschte an ihm vorbei. Dabei legte sie einen Finger an den Mund. Der Junge war einverstanden und nickte.
Zwei Minuten später saß sie auf ihrem Rad und raste die Schifftstraße hinunter in Richtung Innenstadt. Die Kapuze ihrer Jacke hatte sie tief ins Gesicht gezogen. Keiner der Nachbarn sollte sie erkennen. Auf halbem Weg änderte Saliha die Richtung und bog in die Münchener Straße ein. Anderen Ende fuhr sie nach rechts in die Eickedorffer Straße. Erleichtert erkannte sie die hohen Bäume des Bürgerparks. Sie musste dringend nachdenken. Sie mied den großen Spielplatz und fuhr auf kleinen Wegen zum Park Hotel. An einer abseits gelegenen steinernen Bank stoppte sie das erste Mal.
Atemlos stieg Saliha vom Rad und ließ sich erschöpft auf die Bank fallen. ‹Ich brauche eine Idee, einen Plan›, dachte sie verzweifelt. Ein 1 4-jähriges Mädchen konnte nicht einfach abhauen, ohne dass jemand aus der weitverzweigten Familie sie schnell wieder aufspüren würde. Fluchtbereit hielt sie den Fahrradlenker umklammert. Aber bis auf eine alte Frau mit ihrem kleinen Hund und eine Gruppe Kinder sah sie niemanden.
Langsam wurde ihr Atem wieder ruhiger. Erst jetzt bemerkte Saliha, dass ihre Beine zitterten. Aber sie schenkte ihrem Körper keine weitere Beachtung. Sie musste weg von der Straße. Womöglich suchten Osman und ihr Vater sie schon. Vielleicht hatte Murat ihnen auch bereits erzählt, dass sie Bescheid wusste. Vermutlich hatte er längst begriffen, dass sie ihn reingelegt hatte. Bislang hatte Murat sie nie geschlagen oder beschimpft. Doch jetzt würde er sie zutiefst verachten. Saliha biss sich vor Anspannung auf die Lippen, bis sie bluteten. Als sie das warme, süße Blut schmeckte, wischte sie es mit dem Jackenärmel weg.
Wer hätte den Mut, ihr zu helfen und sich dem Zorn der Familie Cetin auszusetzen?
Wer?
In Sekundenschnelle ging sie ihre Klassenkameradinnen durch, verwarf sie aber schnell wieder. Tüley, ihre engste Freundin, war ebenfalls Türkin. Sie würde vielleicht zu ihr halten, aber Saliha konnte Tüleys Eltern nur
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