Ehrenhüter
oder die Polizei holen.» Er sah sie düster an.
Saliha begann zu zittern. Eine lange Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, die sie sich mit einer geübten Bewegung wieder hinters Ohr strich.
«Das hat Nilgün auch immer so gemacht», sagte Roman beklommen. Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Roman stand plötzlich auf und ging zum Schreibtisch. «Ich kann dir Geld geben, damit du abhauen kannst. Mehr kann ich nicht für dich machen.»
Als sein Blick auf den Computer fiel, hellte sich seine Miene auf. «Vielleicht gibt es irgendwo ein Mädchenprojekt, in dem du wohnen kannst?» Ohne ihre Antwort abzuwarten, bediente er die Maus.
Saliha bemerkte, dass der Computer die ganze Zeit online war.
Fünf Minuten später hatte Roman eine entsprechende Institution in Berlin gefunden. «Hier, die können dir bestimmt weiterhelfen.»
Saliha überflog die Homepage. «Ich bin nicht von einem Ehrenmord bedroht», sagte sie konsterniert. «Mein Vater will mich nur verheiraten.»
Roman zuckte mit der Schulter. «Ist doch fast dasselbe, oder?»
Er schaute auf die Uhr. «Du musst gehen. Meine Eltern werden in der nächsten halben Stunde zurückkommen. Die flippen aus, wenn sie dich hier sehen.»
Saliha fühlte sich unendlich müde. Schwerfällig stand sie von ihrem Stuhl auf.
Ein Geräusch an der Gartenpforte ließ Roman aufschrecken. Er schnellte von seinem Stuhl hoch und schaute aus dem Fenster. «Scheiße. Sie sind zurück. Du musst dich verstecken. Schnell.»
Er griff Salihas Hand und zog sie die steile Treppe hinunter. Fast wäre sie gestürzt. Aber sie prallte nur gegen Roman, der sich am Treppengeländer abstützte. Sie hatten Glück. Romans Vater schob noch den vollen Mülleimer vors Haus, während Cornelia Rodewaldt mit mehreren Einkaufstaschen vorm Eingang auf ihn wartete.
«Ich haue über eure Terrasse ab», schlug Saliha vor.
«Nein, warte.» Er öffnete einen kleinen Abstellraum unter der Treppe, der mit Geschenkpapierrollen und Kartons vollgestellt war. «Versteck dich hier. Wenn sie im Wohnzimmer sind, lasse ich dich vorne wieder raus.»
Die Stimmen kamen näher. Roman sah sie flehend an. Zögernd fasste Saliha ihre Tasche enger und kroch in dieKammer unter der Treppe. Sofort schloss sich die Holztür hinter ihr. Im selben Moment hörte Saliha, wie jemand den Schlüssel im Schloss der Haustür umdrehte.
Sie setzte sich auf den kalten Boden und lauschte der Begrüßung auf der anderen Seite der dünnen Holzverschalung.
Mutter und Vater waren erleichtert, ihren Sohn angezogen zu sehen. «Gott sei Dank, du siehst wieder etwas besser aus», hörte sie Cornelia Rodewaldt sagen.
«Heute Abend gibt es dein Lieblingsessen», kündigte eine Männerstimme an. «Aber zuerst mache ich uns den Kaminofen an.»
Am liebsten wäre Saliha aus ihrem Versteck hervorgekrochen. Wie warmherzig der Vater mit Roman sprach! Saliha hatte keinen Zweifel, dass auch Kemal Cetin seine Söhne liebte. Und bis vor kurzem sicher auch seine beiden Mädchen. Aber es blieb immer eine Spur Distanz zwischen ihnen. Bis zur Pubertät hatte er Osman und Murat geschlagen, wenn sie ihm widersprachen. Roman dagegen hatte sicher noch nie eine Ohrfeige von seinen Eltern erhalten.
Sie beneidete ihn. Was würde sie darum geben, mit Roman zu tauschen.
Die Rodewaldts schienen die Einkaufstüten in die Küche zu tragen. Das Licht im Flur ließen sie brennen. Ein schmaler Streifen fiel durch den Spalt der Holztür in die dunkle Kammer.
Saliha suchte mit den Händen nach etwas Weichem, auf das sie sich bequemer setzen konnte. Etwas pikste sie in die Hand. Vorsichtig, um sich nicht ein zweites Mal zu stechen, tastete sie erneut die Stelle bei den Kartons ab. Da war es wieder. Ein kleines Ding mit einer spitzen Nadel. Sie nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt es direkt anden Lichtspalt unter der Tür: ein Ohrring mit einem herzförmigen Anhänger.
Neugierig geworden, drehte Saliha das Schmuckstück mehrfach und betrachtete es genauer. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was ihre Augen längst erkannt hatten: Das war nicht irgendein Ohrring, er gehörte Nilgün.
Salihas Gedanken überschlugen sich. Hatte sich ihre Schwester auch in dem kleinen Verschlag versteckt? Vor wem aber hatte sie Angst gehabt?
Plötzlich stieg ein furchtbarer Verdacht in Saliha auf. Ihr Puls raste. Alles falsch. Alles gelogen. Die netten Worte, das freundliche Getue! ‹Raus, raus!›, schrie eine Stimme in ihr. Instinktiv drückte Saliha
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