Ein bisschen schwanger
Oh Gott! Jetzt packte mich doch die Angst. Patricks Finger bohrten sich noch tiefer in meine Arme. Mit dem Luftzug wehte ein starker Geruch nach fauligem, rohem Fleisch herüber.
Die Finsternis war mittlerweile vollkommen. Die Geräusche hundertfach verstärkt. Der Geruch zum Erbrechen widerlich.
Martin, mach keinen Quatsch! Übertreib’s nicht, bitte!
»Ich schwöre dir, wenn wir hier heil rauskommen, bedränge ich dich nie wieder, Linda. Ich lasse dich in Ruhe, du kannst mir glauben, ich schwör’s bei allem, was mir heilig ist! Ich schwör’s, ich … «
Der Rest ging in Geschrei unter.
Ich kniff die Augen zu, dachte an die Worte meines Vaters: »Wenn doch mal ein Tiger ausbricht … «, dachte an mein Kind. Kein Tiger sollte es aus meinem Bauch herausreißen.
Eine Taschenlampe leuchtete auf.
Vor uns stand Martin. In der einen Hand hielt er eine Rinderkeule, die wohl einer der Tiger zum Abendessen bekommen sollte, in der anderen einen Rechen. Dessen Zinken umfassten Patricks Unterschenkel. Patrick musste in seiner Panik gedacht haben, es handele sich um eine Tigerkralle.
»So! Ende der Vorstellung«, rief Martin barsch. »Weg von meiner Freundin! Was soll das hier werden?«
Patrick richtete sich hastig auf. Er war immer noch totenbleich.
» Das gibt Ärger!«, stammelte er.
»Was?«, schnappte Martin.
»Was?«, wiederholte ich und streckte die Hand aus, um mir aufhelfen zu lassen. Martin ergriff sie, Patrick auch. Beide zogen mich hoch, ließen mich dann los und tauschten giftige Blicke.
»Was gibt Ärger?«, fragte ich Patrick noch einmal und wusste, dass man in diesem Moment meine ganze Ruhe, Kraft und Selbstsicherheit in meiner Stimme mitschwingen hörte.
»Nichts«, sagte Patrick leise, seine Hand berührte meine kurz zum Abschied. »Ich halte mich an mein Versprechen. Mach, was du willst. Mach’s gut.« Er drehte sich um und ging.
»Auf Nimmerwiedersehen!«, rief Martin ihm hinterher. Patrick reagierte nicht. Er stieß die Tür, die Martin wieder entriegelt haben musste, auf und verschwand.
Martin grinste mich an. »Na, war ich gut?«, fragte er und seine zweifarbigen Augen leuchteten.
»Zu gut, du Schlitzohr!«, sagte ich streng. »Ich hab selbst total Schiss gehabt!«
Martin lachte auf. »Das tut mir aber Leid!«
»Und das soll ich dir glauben?«
»Na klar!« Er küsste mich, hielt dann aber erschrocken inne und sah auf seine Uhr. »Verflixt! Mein Auftritt ist in zehn Minuten! Ich muss mich beeilen! Sehen wir uns nachher, Linda? Ich warte auf dich! Tschüs!«
»Tschüs«, sagte ich lächelnd und dachte an unser erstes Treffen bei den Anakondas. Schon damals hätte ich ihn am liebsten gar nicht gehen lassen.
Einige Minuten stand ich noch allein im Raubtierhaus. Um mich herum beruhigten sich die Tiere in ihren Käfigen. Sie sahen jetzt wieder ganz harmlos aus, herrliche Katzen, wie entsprungen aus meinen wunderschönen Bildern.
Ich legte die Hand auf meinen Bauch und horchte in mich hinein. Wenn ich jetzt ganz still war, würde ich vielleicht etwas hören.
Tageserwachen
3. November
»Linda! Aufstehen!«, ruft mein Vater. »Es ist schon Viertel nach sieben! Wenn du noch duschen willst, dann los! «
Ich schlage die Decke zurück, torkele ins Bad. Lauwarmes Wasser. Kein Gebirgsbach diesmal, aber doch eine Erfrischung, Reinigung. Ich wickele mich in mein Lieblingsbadehandtuch, tapse barfuß zurück in mein Zimmer, öffne die Balkontür. Kalte Luft strömt herein, Krähen krächzen in den Bäumen. Hinter den Bäumen geht die Sonne auf, direkt über dem Zoo.
Wie schön das Leben sein kann!
Meine Mutter tritt hinter mich. »Bist du immer noch nicht fertig? Du musst dich beeilen!«
»Ich bin fertig.«
»Und? Hast du dich jetzt endlich entschieden?«
»Ja.«
»Und? Fahren wir zum Arzt oder soll ich Frühstück machen?«
Ich lächle. »Was denkst du?«
Kristina Dunker
© Beltz & Gelberg
Kristina Dunker, geboren 1973, veröffentlichte bereits vor dem Abitur ihren ersten Roman. Sie studierte Kunstgeschichte und Archäologie, hat mittlerweile mehrere Romane für Kinder und Jugendliche veröffentlicht und lebt als freie Schriftstellerin in Castrop-Rauxel. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr bisher die Jugendromane Liebe gibt’s nicht, Anna Eisblume und Schmerzverliebt .
Mehr über die Autorin und ihre Bücher unter www.kristina-dunker.de
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