Ein delikater Liebesbrief
Wo?«
»Nun, in meiner Kutsche natürlich«, sagte Mrs Cable. »Wir wollten zu meiner Schwester fahren, die zwar nur fünf Meilen entfernt lebt, doch mein Mann pflegt immer zu sagen: ›Mrs Cable, mach es dir so bequem wie möglich.‹ Und das habe ich getan, meine Liebe. Ich habe die Kutsche genommen, obwohl es nur eine kurze Strecke ist.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz …«, begann Henrietta, doch ihre Stiefmutter fiel ihr ins Wort.
»Mrs Cable, darf ich daher annehmen, dass Sie den höflichen Kuss beobachtet haben, den Mr Darby meiner Tochter gab?«
»In der Tat!«, gackerte Mrs Cable und plumpste schwer auf einen Stuhl. »Genau das ist es, was ich gesehen habe, meine werte Dame, aber wenn ich Sie diesbezüglich korrigieren darf: Dieser Kuss war ein wenig zu heftig, um höflich genannt zu werden!« Sie kicherte in sich hinein.
Henrietta saß wie erstarrt auf dem Kanapee, doch Millicent hatte bereits die Führung übernommen. »Der bedauernswerte Mann hat um Henriettas Hand angehalten, meine Damen.«
Alle Blicke richteten sich auf Henrietta und wurden so rasch wieder abgewandt, als hätte sie die Pocken.
»Natürlich war Mr Darby nicht in die besonderen Umstände eingeweiht«, fuhr Millicent fort.
Lady Winifred, die neben Henrietta saß, tätschelte ihr wohlwollend die Hand. »Das muss sehr schwierig für Sie gewesen sein, meine Liebe. Wenn doch noch die alten Sitten herrschten und Gentlemen so viel Anstand besitzen würden, sich an Eltern oder Vormunde einer jungen Dame zu wenden, bevor sie ihre Gefühle so deutlich zum Ausdruck bringen! Zu meiner Zeit wäre so etwas nicht passiert.«
»Wohl wahr«, fiel Mrs Barret-Ducrorq mit schriller Stimme ein. »Ich habe die liebe Lucy instruiert, dass sie keinesfalls auf die Zudringlichkeiten eines Gentleman eingehen darf, bevor er nicht mit mir gesprochen und meine Einwilligung eingeholt hat.«
Henrietta verzog die Lippen zu dem – wie sie hoffte – scheuen Lächeln einer jungen Dame, die gegen ihren Willen belästigt worden war. Jetzt begriff sie erst, warum Millicent zu dem Nähkränzchen erschienen war. Sie wollte nicht etwa überwachen, ob Henrietta mit Darby plauderte, sondern sie vor den Folgen dieses skandalösen Kusses schützen.
Nun mischte sich auch Esme ein. »Mein Neffe ist ganz und gar niedergeschmettert«, erklärte sie mit überzeugend stockender Stimme. »Ich fürchte, er hat wirklich sein Herz an Henrietta verloren. Er hat mir gestanden, es habe daran gelegen, dass er von ihrer Seite absolut keine Ermutigung erhielt. Ist das nicht ein aufmunterndes Beispiel für andere junge Damen? Sie wissen wohl, dass mein Neffe in der Gesellschaft tonangebend ist. Sehr viele junge Damen haben schon versucht, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Doch erst, als er Henrietta kennenlernte und zum ersten Mal in seinem Leben auf Gleichgültigkeit stieß, ist in ihm der Wunsch zu heiraten erwacht.«
Millicent nickte beifällig. »Ich möchte hinzufügen, dass es für ihn ein furchtbarer Schlag war, als ich ihn über Henriettas Leiden in Kenntnis setzen musste.«
Nun blickten die anwesenden Damen Henrietta mitleidig an.
»Ich wage zu behaupten, dass er es überleben wird«, fuhr Esme in traurigem Ton fort. »Doch dies wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich hoffe sehnlichst, dass ich noch zu Lebzeiten einen Großneffen oder eine Großnichte auf dieser Welt begrüßen darf.«
Dies war nach Henriettas Dafürhalten ein wenig übertrieben, doch die Damen nickten betrübt.
»Er muss ja furchtbar enttäuscht gewesen sein«, sinnierte Mrs Cable. »Aus der Art, wie er … Lady Henrietta im Arm hielt, konnte man ersehen, dass sein Herz bei der Sache war. Und nur aus dem Grunde, weil Sie ihm die kalte Schulter zeigten! Es ist wahrlich eine Schande, dass nicht mehr junge Damen so vorsichtig sind wie unsere teure Lady Henrietta.«
»Ich habe meiner Nichte mehr als einmal sagen müssen, sie solle sich zurückhaltender benehmen«, stellte Mrs Barret-Ducrorq ein wenig säuerlich fest. »Wohlgemerkt, Lucy hat Mr Darby nie ermutigt. Sie sagte, er sei doch nicht so furchtbar nett, wie sie zuerst geglaubt habe. Aber da sehen Sie’s ja, wir waren schon immer eine sehr scharfsinnige Familie.«
Darby saß in seinem kleinen Schlafzimmer und kämpfte mit seinem Gewissen. Es bestand absolut kein Grund, sich für eine Tasse Tee nach unten zu begeben. Er sollte besser nach London zurückkehren. Er war nach Limpley Stoke gereist, um herauszufinden, ob seine Tante
Weitere Kostenlose Bücher