Ein delikater Liebesbrief
schluchzend an Henriettas Schulter zusammen. »Ich weine nie «, schluchzte sie. »Nie! Ich habe nicht einmal auf der Beerdigung geweint, obwohl er doch mein süßer kleiner Benjamin war, mein Püppchen. Niemand hat ihn so geliebt wie ich. Er war mein Ein und Alles!«
»Oh, Esme, es tut mir ja so furchtbar leid«, wiederholte Henrietta. Auch ihre Augen brannten. »Das ist ja schrecklich.«
Doch Esmes Tränen waren bereits versiegt. »Ich habe all diese Trauer so satt!«, stieß sie hervor. »In meinem Leben habe ich wirklich nicht oft geweint. Sie glauben mir das wahrscheinlich nicht, weil wir uns erst einen Monat kennen, aber es ist wahr. Ich bin keine Heulsuse, wirklich nicht.«
»Es ist doch nicht ungehörig, bei der Erinnerung an einen verstorbenen Bruder zu weinen. Der Tod eines Kindes bricht jedem das Herz.«
Esme putzte sich die Nase, die schon rot war, und streckte ihre Hand nach einem Zitronentörtchen aus. Doch Josie hatte alle verputzt. Henrietta reichte ihr ein Tablett mit Fruchtgelee.
»Ich weine aus den nichtigsten Anlässen. Heute Morgen habe ich meine heiße Schokolade auf der Bettdecke vergossen und hätte um ein Haar deswegen geheult. Alles, was ich noch zustande bringe, ist Essen und Weinen. Es tut mir leid, Henrietta. Worüber sprachen wir noch gleich, bevor ich losgeheult habe wie ein Schlosshund?«
»Über nichts, das ungeheuer wichtig wäre.«
»Doch, es war wichtig«, entsann sich Esme. »Ich habe versucht, Sie auszuhorchen, wie es mit Ihnen und Darby steht. Denn als Sie beide vergangenen Montag das Haus verließen, wirkten sie durchaus glücklich … aber haben Sie in den letzten Tagen überhaupt mehr als zwei Worte miteinander gewechselt?«
»Sicherlich haben wir uns gelegentlich unterhalten«, erwiderte Henrietta sachlich. »Wir haben einander nicht so schrecklich viel zu sagen, aber das ist ja nur natürlich in Fällen, wo die Interessen dermaßen weit auseinanderliegen.«
»Ich verstehe das einfach nicht. Ich bin eigentlich eine gute Menschenkennerin. Ich habe wirklich geglaubt, aus Ihnen würde ein Paar werden, wenn ich das so sagen darf.«
Henrietta fand, dass Esme es durchaus dürfe. Doch was sollte sie dazu sagen? »Natürlich dürfen Sie das so sagen«, versicherte sie der Freundin. »Ich glaube aber, Sie haben unser Interesse füreinander falsch bewertet.«
»Ich mag zwar nicht fähig sein, eine gerade Naht zu nähen, selbst wenn es um meine Leben ginge, doch in Bezug auf Männer bin ich eine Expertin«, behauptete Esme. »Und Darby kenne ich in- und auswendig. Als ich Sie beide im Salon allein ließ, machte er auf mich den Eindruck eines Mannes, der einen Kuss rauben möchte. Denn Sie müssen wissen, meine Liebe, da ich mich seit ewigen Zeiten in der Gesellschaft bewege und eine ganze Reihe von Männern geküsst habe, ist dies ein Ausdruck, den ich ganz genau erkenne!«
Zu ihrem Glück (oder Unglück, je nach Sichtweise) blieb es Henrietta erspart, zu antworten, da in diesem Augenblick die Damen des Nähkränzchens in den Salon strömten, schnatternd wie eine Gänseherde. Esme mühte sich auf die Beine und gab Slope einen Wink, das leere Tablett zu entfernen, auf dem die Zitronentörtchen gewesen waren. Henrietta erhob sich, um Lady Winifred, Mrs Barret-Ducrorq und zu ihrem Erstaunen auch ihre Stiefmutter Millicent zu begrüßen.
Henrietta erriet sofort, warum Millicent dem Nähkränzchen beigetreten war. Ihre Stiefmutter engagierte sich niemals für wohltätige Zwecke, da sie derlei Anstrengungen so eintönig fand wie den Staub von letztem Jahr. Doch der Umstand von Darbys Anwesenheit in diesem Hause hatte sie zu einer Änderung ihres Verhaltens veranlasst. Unzweifelhaft wünschte sie sein Benehmen gegenüber Henrietta zu beobachten. Oder umgekehrt.
Mrs Cable hetzte ein wenig verspätet herein, nachdem die anderen Damen bereits mit einer Tasse Tee versorgt waren.
»Hallo! Hallo!«, grüßte sie mit schriller Stimme, huschte im Kreise herum und hauchte Küsschen auf Wangen. Vor Henrietta jedoch blieb sie abrupt stehen und sagte mahnend: »So, so, Lady Henrietta!«
Henrietta knickste. »Wie schön, Sie zu sehen, Mrs Cable.«
»Ich habe Sie gesehen, Sie mich jedoch offensichtlich nicht«, sagte Mrs Cable und schüttelte einen mahnenden Zeigefinger.
Henrietta spürte ein flaues Gefühl in der Magengrube.
»Oh ja«, betonte Mrs Cable schrill, offensichtlich zufrieden, dass sie nun endlich den neuesten Klatsch loswerden konnte. »Ich war dort .«
»Dort?
Weitere Kostenlose Bücher